Die wilde Jagd - Roman
ließ den Kopf hängen. »Ich habe versagt.«
»Eine Wunde, die schon vernarbt ist, kann mit der Gabe nicht mehr geheilt werden«, sagte Alderan.
»Ich weiß.«
Er hatte es trotzdem versucht, denn Resas Verletzungen hatten ihn so bewegt, dass er es einfach hatte versuchen müssen. Er war ein großes Risiko eingegangen, hatte vielleicht sogar ihren Aufenthaltsort verraten und gar nichts damit erreicht. Alderan sagte nichts mehr, aber sein stummer Tadel war lauter als ein Schrei. Der alte Mann nahm den nächsten Bücherstapel vom Tisch und sortierte die Bände in die Regale ein.
»Geht es ihr gut?«, fragte er beiläufig, ohne sich umzudrehen.
»Anscheinend. Schwester Sofi kümmert sich um sie.« Gair richtete sich auf und rieb sich mit den Händen über das Gesicht. »Ich weiß, dass es einen Punkt gibt, ab dem die Heilkraft nicht mehr wirkt. Ich weiß nicht, was ich erreichen wollte. Ich musste es einfach versuchen.«
Alderan wandte sich dem Licht zu und betrachtete das letzte Buch. Es war ein dickes, schweres Ding von der Größe eines Buches Eador, und das Leder des Einbands war so stark abgeblättert, dass der Titel auf dem Rücken kaum mehr zu lesen war. Sanft rieb er mit den Fingerspitzen über die verbliebenen Buchstaben und stellte es dann vorsichtig auf das Regal neben die anderen.
»Vielleicht hast du geglaubt, du könntest auch dein eigenes Mal heilen, wenn es dir gelingt, Resas Narben zu beseitigen.«
Gair öffnete seine Linke. Schweiß glänzte in den Handlinien; es war beinahe so, als würde das augenförmige Hexermal weinen.
»Der Gedanke war mir gar nicht gekommen«, sagte er und wischte sich die Hand an der Hose ab. »Sie hat es gesehen. Schwester Resa. Und dann hat sie mir ihr Gesicht gezeigt.«
Alderan nahm einen weiteren Stapel und machte sich daran, die nächsten Regale aufzufüllen. »Sie ist ein tapferes Mädchen. Nach einem solchen Angriff hätten die meisten nicht mehr weiterleben wollen.«
Gair spürte erneut das Züngeln schwarzer Flammen in seinem Innern. »Ich glaube, sie findet eine Menge Trost im Gebet.«
»Das ist bei den Gläubigen üblicherweise so.« Buch für Buch wurde in die Regale geschoben. »Vermisst du es? Ich meine das Gebet. Die festgesetzten Zeiten dafür.«
Als er ein Kind war, hatte das Morgengebet einen festen Bestandteil von Gairs Tagesablauf dargestellt. Er war zu jung gewesen, um es in Frage zu stellen. Der gesamte Haushalt ging zum Gebet, also ging auch er und saß zusammen mit den anderen Pflegekindern in der Bank hinter der Familie, während er Pater Drumhellers donnernden Predigten zuhörte. Als er später im Mutterhaus gelebt hatte, wo die volle Liturgie gefeiert wurde und die Teilnahme daran Pflicht war, hatte er keine Wahl gehabt, auch wenn er die Göttin nicht mehr hatte sprechen hören.
»Zuerst habe ich das Ritual vermisst. Ich wache noch immer sehr früh auf. Aber das Gebet?« Gair nahm einen weiteren Bücherstapel vom Tisch und half Alderan. »Nein, ich glaube, ich vermisse es nicht. Die Kirche bedeutet mir nichts mehr.«
Bis zu diesem Tag war er nur noch ein einziges Mal in einer Kapelle gewesen, seit er das Mutterhaus verlassen hatte. Nach der Abendglocke, als das ganze Kapitelhaus geschlafen hatte, hatte er im schwachen Glanz der Lampe des Allerheiligsten gekniet und versucht, sein Herz vor der Göttin zu öffnen, während seine Wangen vor Kummer gebrannt hatten, doch dabei hatte er die Fäuste in die Hüften gestemmt. Damals war ihm bewusst geworden, dass sein Glaube verschwunden war, falls er ihn je gehabt hatte.
Er schob ein Buch nach dem anderen ins Regal und kehrte dann zu seinem Stuhl und zum nächsten unsortierten Stapel zurück. Der Gedichtband, ein Zwilling desjenigen unter seinem Kissen in der Gästehalle, befand sich noch dort, wo er ihn abgelegt hatte. Er betastete den abgeschabten Einband und die rauen Ränder der Blätter, die sich aus der Bindung gelöst hatten, dann legte er ihn auf den Stapel der wieder einzuordnenden Bücher und öffnete das nächste Buch.
Vielleicht würde er am Abend noch etwas lesen, wenn er nicht schlafen konnte. Er konnte versuchen, im klaren, silbernen Licht Lumiels einige weitere Worte zu lernen, oder er würde das Buch einfach nur in den Händen halten und sich an Ayshas Stimme erinnern. Es linderte seinen Schmerz nicht, aber es spendete ihm mehr Trost als jedes Gebet.
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Der Arbeitskittel war grob und kratzig und lag sehr eng um Gairs Schultern. Überdies vermutete er, dass er diesen Kittel
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