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Die wilde Jagd - Roman

Die wilde Jagd - Roman

Titel: Die wilde Jagd - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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blendeten das Auge. Das Bild kam näher, als würde es aus der Perspektive eines herabsinkenden Vogels gezeigt, und konzentrierte sich schließlich auf einen Bergpass mit einer Festung an der schmalsten Stelle. Massive Mauern erstreckten sich über den Pass, von schwer befestigten Türmen flankiert, in denen leere Fensterhöhlen an Augenhöhlen ausgeblichener Schädel erinnerten. Raben kreisten darüber und keiften auf den Zinnen; ihre rauen Stimmen hallten den Pass entlang. Kein Rauch stieg aus der Festung auf, kein Laut ertönte hinter den Mauern; der ganze Pass strahlte Einsamkeit aus. Wenn es dort noch bewaffnete Männer gab, dann waren sie so still und reglos wie Steine.
    »Es stimmt«, flüsterte eine der Sprecherinnen. »Sie ist leer.«
    »Kannst du näher herangehen und hineinsehen?«, fragte ihr Häuptling.
    Der Blick richtete sich auf den näheren der beiden Wachttürme und holte ihn heran. Ein Fenster gähnte, schluckte den Blick, und Teias kleine Schale füllte sich mit Dunkelheit. Nun wurde sie wieder ein wenig heller und zeigte ein rundes Zimmer mit einem Türbogen, der zu einer steinernen Treppe führte, die sich durch den Turm wand, nach oben bis zu den Zinnen, von denen aus man den leeren Innenhof der Festung sah. Auf dem Weg nach unten passierte die Treppe einige weitere Zimmer, bis sie in einen Raum mit Tür zum Innenhof mündete. Eingestürzte Dächer und stille Korridore erzählten eine Geschichte von langer Verlassenheit, die ihren Widerhall in geborstenen, von Flechtwerk überzogenen Steinen und Kaminen ohne jede Asche fand. Die Festung war vollkommen verlassen.
    Die Sprecherinnen zogen sich zurück, und das Bild löste sich auf. Eine Brise kräuselte das Wasser des Sees, und alle Spuren der Vision waren verschwunden.
    Teia strich sich die Haare aus dem Gesicht. Ihre Konzentration hatte abgenommen. Die Sprecherinnen hatten sie beinahe in ihr Gewebe hineingezogen, und es erforderte große Anstrengungen von Teia, ihre eigenen Visionen von denen der anderen zu trennen. Ihre Schläfen pochten; sie würde nicht mehr lange in der Lage sein, das Bild aufrechtzuerhalten.
    »Ich bin zufrieden«, verkündete der Häuptling des Weißseeclans und nickte, als seine Sprecherin wieder ihren Platz an seiner Seite einnahm. »Ich kenne diesen Ort. Wenn er verlassen ist, haben die Eisenmenschen vermutlich auch die anderen aufgegeben. Was schlägst du vor? Dies ist eine schlechte Jahreszeit, um einen Krieg zu beginnen.«
    »Ich schlage vor, dass wir den Winter abwarten, unsere Kriegerscharen bewaffnen und uns bereit machen, ehe wir im Frühling unsere Streitkräfte gemeinsam in den Krieg führen.«
    Drwyn machte ein entschlossenes, grimmiges Gesicht, doch Eirdubh schüttelte den Kopf. »Es ist gefährlich, Drwyn, sehr gefährlich«, sagte er, »einen Krieg nach so langer Zeit wieder aufzunehmen, der uns viele tapfere Krieger kosten wird. Selbst Blutfehden überdauern nicht so viele Generationen. Ist es nicht an der Zeit, die Sache auf sich beruhen zu lassen? Ich muss gestehen, dass mir dein Plan nicht behagt.«
    »Die dunkle Göttin wird uns führen«, sagte Ytha zu ihm. »Ich habe es in einer Zukunftsvision gesehen.«
    Überraschtes und erregtes Gemurmel durchlief die Versammlung. Teia beugte sich tiefer über ihre Schale, aber sie konnte trotzdem nicht besser sehen. Zeichen und Omen waren etwas Gewöhnliches; sie geleiteten die Clans durch das tägliche Leben – sie zeigten ihnen, wo sie jagen oder lagern sollten oder wo das Glück liegen konnte –, aber eine wahre Zukunftsvision war selten. Kein Wunder, dass die anderen Sprecherinnen so interessiert daran waren.
    »Drei Nächte lang«, sagte Ytha und breitete die Arme weit aus, »habe ich von einem großen Wolf geträumt, der auf der Ebene umherstrich und hungrig nach Beute suchte. Drei Tage lang heulte der Wolf in der Morgendämmerung, und bei Sonnenuntergang weinte unser Totemtier blutige Tränen angesichts unserer Gefangenschaft. In der vierten Nacht sprach ein Rabe in meinem Traum zu mir und sagte mir, dass Maegern wieder reiten wird. Sie wird wie ein Sturm über unsere Feinde herfallen und sie aus unserem angestammten Lande vertreiben, sodass wir wieder frei sein werden.«
    Ein Zittern überlief Teias Rückgrat, und instinktiv machte sie das Zeichen des Schutzes über ihrer Brust. Maegern, die Göttin der Toten! Die Göttin des Krieges, der Raben und der Zwietracht, die dunkelste und blutigste Gottheit im Götterhimmel der Clans mit dem Auge auf ihrem

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