Die wilde Jagd - Roman
gemacht.
Nun schneite es wieder. Es waren trockene, dahintreibende Flocken, die wie Asche in der Luft hingen oder wie die Federn einer Taube, die von einem Habicht geschlagen worden war. Sie wurden von plötzlichen Windstößen emporgewirbelt und auseinandergetrieben, und nie konnten sie sich niederlassen. Teia zog sich die Kapuze über den Kopf und legte den Pelzkragen enger um sich, doch irgendwie fanden stets einige Flocken den Weg zu ihrem Hals und drückten ihr beißende Küsse auf die Haut. Sie war so müde und erschöpft, dass sie nichts mehr dagegen unternehmen konnte.
Die letzten ihres Clans trotteten durch den Schnee, gegen den Frost dick eingemummelt, führten Packponys an der Leine und trugen Säcke auf dem Rücken. Allein oder zu zweit verschwanden sie im breiten Schlund des Berges. Teia beobachtete sie von einem Felsvorsprung vor der Höhle aus. Ihre eigene Familie war bereits hineingegangen und die Sprecherin auch; niemand hatte einen Blick zurückgeworfen. Teia hatte schon lange die Hoffnung aufgegeben, jemand würde sie ansehen und damit anerkennen, dass sie noch existierte.
Eigentlich sollte sie ebenfalls schon im Innern der Höhle sein und das Gemach des Häuptlings für seine Rückkehr von der Jagd vorbereiten. Da es viele Monate leer gestanden hatte, würde einige Arbeit nötig sein, um es wieder wohnlich zu machen. Teppiche mussten ausgelegt und Wandbehänge angebracht werden, um die Kälte des Steins zu überdecken, doch sie konnte sich einfach noch nicht dazu bringen, in den Berg hineinzugehen und das Tageslicht hinter sich zu lassen, das ihre letzte Erinnerung an die Freiheit war.
Früher hatte ihr die Dunkelheit der Höhlen keine Angst gemacht. Doch jetzt fürchtete sie sich schon bei der bloßen Vorstellung, sich in das Innere der Erde zu begeben. Es war, als würde sie in die Unterwelt hinabsteigen, wo den Geschichten zufolge Noam die Prinzessin gerettet hatte. Doch Teia war keine Prinzessin, und niemand würde nach ihr sehen. So beobachtete sie unter dem bleiernen Himmel, wie die Schneeflocken sie umtanzten, und wünschte sich, weit, weit weg zu sein.
Doch der Winter war die falsche Zeit, um wegzulaufen. Jede Jahreszeit auf der Ebene hatte ihre Gefahren. Die Fluten im Frühling machten die Flüsse so breit und reißend, dass sie kaum zu überqueren waren, und die Stürme, die mit der Sommerhitze kamen, fegten in meilenweitem Umkreis jedes Blatt und jeden Grashalm fort. Doch im Winter, wenn die Tage kurz und dunkel waren und die große weiße Kälte von den Berggipfeln herunterstieg, gingen die Menschen nur nach draußen, um zu sterben.
Sie nannten es »den weißen Hirsch jagen«, wenn sie genug hatten. Es waren in der Hauptsache alte Männer, die Angst vor Gebrechlichkeit oder den Verstand verloren hatten, doch manchmal auch junge Männer, die vor der Zeit müde geworden waren, einen Speer nahmen und zur letzten Jagd in die Nacht hinausgingen. Sie kehrten nie zurück. Manchmal fand ihre Sippe ihren Leichnam im Frühling, errichtete einen Steinhaufen über ihm und sang ihre Seele ins Jenseits, doch öfter noch schluckte die Ebene sie mit Haut und Haaren.
Der Wind frischte auf, und Teia zitterte trotz des dichten Biberpelzes, den sie bis zum Kinn hochgezogen hatte. Vermutlich waren die meisten der Vermissten tot, aber sicherlich hatte nicht jeder der Männer, die auf die Jagd nach dem weißen Hirschen gegangen waren, sterben wollen. Bestimmt hatten einige überlebt und sich den Verlorenen angeschlossen. Es musste möglich sein, es durchzustehen. Es musste, wenn man stark genug war.
Teia warf einen letzten Blick auf die dunklen Kiefern, welche die unteren Berghänge sprenkelten, und auf die Ebene, die hinter dem Schleier aus Schnee immer wieder sichtbar wurde, dann stieg sie ab und führte ihr Pferd nach drinnen.
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»Duncan.«
Es war Kaels Stimme. Duncan öffnete die Augen und blinzelte. Zuckende Schatten und sein dampfender Atem verliehen Kaels Gesicht im Licht der Laterne ein dämonisches Aussehen.
»Was ist los?«
»Wir haben Gesellschaft.« Kael setzte die Laterne ab und schlich zurück auf seinen Wachtposten.
Duncan schob die Decken zurück und schlüpfte zitternd in den Umhang, den er als Unterlage benutzt hatte, bevor er aus der Höhle trat und Kael durch den treibenden Schnee folgte. In den kurzen, bitterkalten Tagen am Ende des Jahres folgte ein Schneesturm dem anderen, und so waren die beiden nur langsam vorangekommen und hatten schließlich in der kleinen Höhle
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