Die wilde Jagd - Roman
einige Fuß von ihr; nun schwebte sie vor dem verhängten Eingang. In ihrem Licht zog sich Teia an, stieg in ihre Stiefel, legte sich einen dicken Mantel um und hob den Vorhang. Die Kugel schoss hinaus und wartete in dem Gang dahinter, bis Teia sie einholte. Dann flog sie in Richtung Versammlungsplatz.
Niemand regte sich in den Höhlen. Drwyns Wachen waren entlassen worden, und zu dieser späten Stunde hatten sich alle zurückgezogen. Hinter den anderen verhängten Eingängen, an denen sie vorbeikam, hörte Teia Schnarchen, das Jammern von Kleinkindern und leise, drängende Liebeslaute. Das bläuliche Licht der Kugel geleitete sie um schwelende Kochfeuer und abgelegte Waffen herum, führte sie hinunter zu der großen, leeren Höhle, in der die Versammlungen abgehalten wurden, und am anderen Ende wieder hinauf. Es ging vorbei an weiteren bewohnten Höhlen und Vorratskammern, bis sie schließlich eine Abzweigung zu den älteren Höhlen nahmen.
In diesem Teil der Berge steckten mehr Höhlen, als es Luftlöcher im Gebein eines Vogels gab, damit er leicht genug zum Fliegen war. Seit Tausenden Jahren hatten Generationen von Clanangehörigen Wege zu immer weiteren Höhlen gegraben, um ihr Quartier zu vergrößern, aber hier gab es keine Meißelspuren und auch keine grob behauenen Steine. Diese Tunnel waren vor langer Zeit vom Wasser geformt worden; die Wände und Böden wiesen sanfte Wellen auf und waren so anmutig gerundet wie die Kammern in einem Herzen. Nur die Fußabdrücke im dichten, weichen Staub verrieten, dass Menschen je bis hierher gekommen waren.
Teia schluckte nervös. In diesem Tunnel war es unheimlich still, wenn sie vom Geräusch ihrer Stiefel absah, während sie hinter der Lichtkugel herlief, die wiederum den Fußabdrücken folgte. Sie vermutete, dass sie von Ytha stammten; sie schienen eher die einer Frau als die eines Mannes zu sein. Einige andere Abdrücke waren so klein, dass sie von einem Kind stammen konnten, und kurz dachte sie an die anderen Mädchen, die zusammen mit ihr in die Beschwörung hineingezogen worden waren. Besonders rief sie sich die Jüngste in Erinnerung. Sie musste sehr große Angst gehabt haben.
Gelegentlich mündeten andere Tunnel in denjenigen, dem sie und die Kugel folgten, und brachten kalte Windstöße sowie das Gefühl einer gewaltigen Leere herbei, doch manchmal floss auch wärmere Luft hinein, die mit seltsamen Düften der Tiefe durchsetzt war. Wenn Teia stehen blieb, hielt auch die Kugel an, doch sie trieb stets bald weiter, sodass auch Teia ihren Weg wieder aufnehmen musste, damit sie nicht aus dem Lichtkreis geriet.
Allmählich stieg der Tunnel an, langsam zuerst, doch dann immer steiler, bis Teia sich an den Wänden festhalten musste. Mehr als einmal rutschte sie in dem dicken Staub aus, und ihre Schenkel brannten vor Anstrengung. Die Luft wurde kälter, und ihr Atem trieb in Wölkchen vor ihrem Gesicht her. Als sie eine weitere Biegung umrundete, roch sie plötzlich Schnee. Der Tunnel verlief wieder waagerecht und öffnete sich zur Außenwelt.
Teia trat auf einen Vorsprung über einem See auf dem Grund einer steilen Schlucht. Das Tal wurde von scharfkantigen Bergrücken eingerahmt; schwarzer Fels und weißer Schnee hoben sich deutlich vom Nachthimmel ab. Eine launische Brise kräuselte das Wasser unter ihr.
Die Sprecherin wartete am Rande des Vorsprungs auf sie. Sie war in ihren Polarfuchsmantel gewickelt, und der goldene Halbmond hielt ihre Haare zusammen. Sie sah beeindruckend aus. So stellte sich Teia die Königin Etheldren aus dem Märchen vor: eine Königin aus Stein und Mond und Wasser, die niemanden neben sich ertrug.
Trotz ihres dicken Mantels erzitterte Teia vor Unbehagen. Die Lichtkugel neben ihrer Schulter erlosch. »Komm zu mir, mein Kind«, sagte Ytha, ohne sich umzudrehen.
Vorsichtig überquerte Teia den Vorsprung. Gefrorener Schnee knirschte unter ihren Sohlen. Der Wind zerrte an ihrer Kleidung und ihren Haaren.
»Ich habe auf diese Nacht gewartet, in der der Wandermond wieder voll ist«, fuhr die Sprecherin fort. Ihr Atem stand weiß in der kalten Luft, bevor eine Brise ihn davontrug. »In einer Nacht wie dieser können wir vielleicht einen Blick auf unsere Zukunft werfen.«
Sie ergriff Teias Arm und zog sie neben sich. Gemeinsam betrachteten sie ihr Spiegelbild und hoben dann den Blick zur anderen Seite der Schlucht, wo der zweite Mond silbrig weiß und gleichmütig zwischen den Gipfeln der Berge hing.
»Die Gabe wird von Toren und
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