Die wilde Jagd - Roman
Durchlässen angezogen. Sie sucht Türen, Grenzen und Orte, wo zwei Welten aneinanderstoßen. Sie wird vom Wasser angelockt, denn Wasser kann durch die engste Spalte fließen und umspannt mit seinen Flüssen und Ozeanen die ganze Welt. Wasser gibt Leben und treibt es an. Es schenkt den Wurzeln eines Schösslings sogar im Felsen Kraft, erhält den mächtigen Baum und fließt zusammen mit dem Blut durch unsere Adern. Es ist überall und allmächtig. Es kann uns zeigen, was wir ansonsten niemals sehen würden.« Der Griff um Teias Arm wurde fester. »Aber ich glaube, das ist dir bereits bekannt.«
Eisiges Entsetzen überlief Teia. Ytha hatte einen Verdacht, aber wie viel wusste sie?
»Warum habt Ihr mich hergebracht, Sprecherin?«
Ytha drehte sich um und sah sie mit ihren kalten grünen Augen eindringlich an. »Weil die Zeit gekommen ist, da ich entscheiden muss, was ich mit dir tun soll.« Sie zog ein Messer aus ihrem Gürtel. »Und weil du etwas besitzt, was ich brauche.«
Teia sah die glitzernde Klinge und zuckte zusammen. Sie versuchte sich aus Ythas Griff zu befreien, doch dieser war eisern, und das Messer hob sich. Blinde Panik überfiel Teia, und sie schrie auf.
»Sei still, Kind!«, fuhr Ytha sie an. »Ich brauche nur einen einzigen Tropfen.«
»Was?« Teia wurden die Knie weich, und sie wäre beinahe hingefallen. »Aber ich …«
»Streck die Hand aus.« Als sie nicht reagierte, packte Ytha ihre linke Hand, drehte sie um und schnitt geschwind in die Handfläche – nicht tief, aber so, dass ein wenig Blut austrat. Dann schloss sie Teias Finger darum, damit das Blut nicht vergossen wurde. »Warte jetzt.«
Die Sprecherin steckte das Messer zurück in den Gürtel, wandte sich dem See zu und breitete die Arme aus. Dann schloss sie die Augen. Teia sah verängstigt zu, wie das Wasser des Sees still und glatt wie ein Spiegel wurde, obwohl der Wind nicht nachgelassen hatte.
Was immer Ytha gerade webte, zog an der Musik in Teias Innerem und trieb sie dazu, an dem Weben teilzunehmen. Teia kämpfte dagegen an, denn sie hatte Angst, mit weiterem Grauen konfrontiert zu werden, so wie es bei der Versammlung geschehen war. Doch je länger Ytha arbeitete, desto anstrengender wurde es zu widerstehen. Teia klangen die Ohren, und sie hatte das Gefühl, ihr würde das Rückenmark durch den Kopf herausgezogen.
Schließlich endete das schreckliche Zerren. Die Luft sirrte wie eine gezupfte Bogensehne, und der Silbermond wirkte so hart und hell, als ob er den Himmel zerschmettern könnte. Ytha atmete langsam aus und senkte die Arme.
»Lass dein Blut ins Wasser tropfen.«
Teia trat an den Rand des Vorsprungs und hielt die blutende Hand über den See. Einige Tropfen fielen; sie wirkten im Mondlicht so schwarz wie Maegerns Tränen. Das Wasser schluckte sie ohne die geringste Kräuselung; das Spiegelbild des Mondes und der Berge blieb ungetrübt.
Ein seltsames Pulsieren durchfuhr Teias Füße und durchdrang die Musik in ihr, und sie keuchte laut auf. Es setzte eine Pause ein, dann kam es wieder. Die nächste Pause war kürzer, das Pochen wurde härter, es kam wieder und wieder, bis der Rhythmus so stetig war wie der Schlag ihres Herzens.
Dies war etwas ganz anderes als alle Versuche wahrzusagen, die sie je unternommen hatte. Es ging darum, eine Blutvision hervorzurufen, die mächtigste von allen. Im Blut lag Wahrheit, doch nur die Gabe einer anderen konnte diese hervorrufen. Teia spürte Ythas Macht in jeder Faser ihres Körpers pulsieren. Die Luft in ihrer Lunge vibrierte genauso wie die Luft in ihren Ohren, und es wurde lauter und lauter.
Dann sagte Ytha in Teias Kopf: Zeig es mir .
Das Wasser des Sees schimmerte, klarte auf, und es erschien ein Abbild von Teias Gesicht, das größer war, als jede bloße Widerspiegelung es je hätte sein können. Von Ythas Gesicht hingegen war nichts zu sehen.
So beginnt es , sagte die Sprecherin. Zeig es mir .
Das Bild wandelte sich. Blut überzog Teias Gesicht. Es kam aus einer Wunde an der Schläfe, und ihre Augen starrten dumpf und matt aus dem See. Sie blinzelte verwirrt. Dies war das Abbild ihrer ureigenen Vision. Also hatte sie tatsächlich die Zukunft gesehen!
Zeig es mir .
Kein Blut diesmal, nur eine hässliche rote Narbe und eine schneeweiß gewordene Haarlocke. Um ihre Schultern lag der Fuchsmantel der Sprecherin, und sie hielt einen Weißholzstab in der Hand, doch ihre Augen wirkten noch immer so, als blicke sie in die tiefsten Schlünde der Hölle.
Das war eine
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