Die wilde Jagd - Roman
hinter ihm schloss und leise an seinen Haken klirrte; dann stieß sie einen langen Seufzer der Erleichterung aus. Sie musste ihre Zunge im Zaum halten, denn ein zweites Mal würde sie kein solches Glück mehr haben. Dazu hatte sie schon zu oft seine Wut spüren müssen.
Ihr Blick fiel auf die Schüssel in ihren Händen. Das Blut darin hatte beinahe die Farbe von Blaubeerwein. Es war selten, dass Wölfe Menschen anfielen. Meistens waren es scheue Kreaturen; für gewöhnlich sahen die Jäger von ihnen nicht mehr als Spuren im Schnee oder ein paar leuchtende Augen in der Dunkelheit. Dass einer in ein Lager eindrang …
Der Winter war die falsche Zeit, um wegzulaufen. Der Schnee vermochte ein Zelt in einer einzigen Nacht unter sich zu begraben, und in den Bergen streiften die Wölfe umher. Aber wenn sie blieb, wäre sie für den Rest ihres Lebens ein Spielball der Sprecherin und des Häuptlings.
Ihre frühere Entschlossenheit war verschwunden, und sie verzagte. Der Winter war die vollkommen falsche Jahreszeit, aber was sollte sie tun?
»Wenn du weitere schlechte Nachrichten hast, Aradhrim, will ich sie lieber nicht hören. Die letzten reichen schon aus, um mir Sorgen bis zum Sankt Simeonstag zu machen.«
Theodegrance warf ein Bündel Papiere auf seinen Schreibtisch und sich selbst in einen zu fest gepolsterten Ledersessel, der protestierend aufächzte. Er zog die braune, wettergegerbte Stirn kraus.
Der Kriegsherr knöpfte seinen Umhang auf und wartete, bis der Diener des Kaisers die Tür geschlossen hatte, bevor er sagte: »Ich fürchte, es sind sehr schlechte Nachrichten.«
»Das hatte ich erwartet«, grunzte Theodegrance. »Du bist bei schlechtem Wetter von weither angereist. Setz dich ans Feuer und wärme dich – und du auch, junger Mann. Ich werde euch nicht lange aufhalten.«
Duncan folgte seinem Lehensherrn zu zwei Sofas, die vor einem Marmorkamin standen, und setzte sich nervös auf die Kante. Ihm war nur zu deutlich bewusst, dass seine schneebehafteten Stiefel auf den dicken Qilim -Teppich tropften, der so groß war, dass seine ganze Familie darauf hätte schlafen können. Aradhrim schien sich darum nicht zu scheren, denn er setzte sich mit Wohlbehagen und streckte die Füße zum Feuer aus.
Als Kriegsherr war Aradhrim es natürlich gewöhnt, im kaiserlichen Palast zu sein, sogar im persönlichen Arbeitszimmer des Kaisers, der in Hemdsärmeln hinter seinem Schreibtisch saß und über einem Stapel Papieren brütete. Auf Duncan, der vor dieser Reise noch nie die Grenze von Arennor überschritten hatte, wirkte dies unverzeihlich formlos.
Er wagte sich umzuschauen. Der Raum war genauso groß und wohlproportioniert wie sein Bewohner und wirkte unverhohlen männlich. Sitzgelegenheiten mit breiten Lehnen waren großzügig mit erdfarbenen Kissen belegt, die zur Bräune ihres Eigentümers passten. Jede sichtbare Oberfläche zeigte Narben und Kratzer täglichen Gebrauchs; es war kein Zimmer zum Austausch von diplomatischen Nettigkeiten, sondern ein reines Arbeitszimmer, ein Raum, in dem die wirklichen Geschäfte des Reiches abgewickelt wurden.
Der Kaiser blätterte die Dokumente durch, unterschrieb hier, machte da eine Bemerkung. Nach wenigen Minuten war er fertig und warf seinen Stift beiseite. »Also gut«, verkündete er, stemmte sich auf die Beine und nahm auf dem anderen Sofa Platz. »Ich will es hören.«
Ohne Umschweife sagte Aradhrim: »Ich habe Grund zu der Annahme, dass die Nimrothi-Clans noch vor Beginn des Frühlings über die Berge zu uns kommen werden.«
Sofern Duncan eine heftige Reaktion des Kaisers erwartet hatte, wurde er enttäuscht. Theodegrance schürzte nur die Lippen und lehnte sich zurück. »Weiter«, sagte er.
Duncan hörte zu, als der Kriegsherr die Einzelheiten bekannt gab. Jede Nacht auf der langen Reise von Fleet bis hierher hatte der Häuptling ihn befragt und herauszufinden versucht, was er wirklich wusste, um die Tatsachen von den Mutmaßungen zu trennen, die in ihm brodelten. Nun legte er alles so sorgfältig dar, wie ein Krämer seine Waren ausbreitete.
Der Kaiser hörte ruhig zu, hatte die fleischigen Finger vor dem Bauch verschränkt und blinzelte kaum, als die Wilde Jagd erwähnt wurde. Erst als der Kriegsherr sein Vorhaben erläuterte, die An-Archen-Festung wiederzubemannen, veränderte sich Theodegrances Miene. »Das kommt nicht in Frage«, sagte er. Sein breiter Mund schnitt die Worte des Kriegsherrn ab wie ein Fangeisen. »Auf diese bloßen Vermutungen hin kann ich
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