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Die wilden Jahre

Die wilden Jahre

Titel: Die wilden Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Will Berthold
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miteinander arrangiert hatten in einer Stadt, in der die Heiden fromm und die Frommen mitunter heidnisch werden.
    »Wohin gehen wir eigentlich?« fragte Eva.
    »Es ist gleichgültig; hier ist man in jeder Straße daheim.«
    Eva sah, daß die Stadt ihn erregte, und sie spürte, wie sie selbst von Rom bezaubert und bedrängt wurde. Sie hatte nicht mitkommen wollen, als Martin sie gestern eingeladen hatte, mit ihm in den Süden zu fliegen, da sie nicht wie ein kleines Mädchen dastehen wollte mit willigem Gesicht und paraten Koffern. Sie hatte sich erst zu dieser Fahrt durchringen müssen. Noch nie war sie im Oktober in Rom gewesen, und so ließ sie sich, wie sie sich einredete, von der Neugier auf die Stadt verführen, obwohl sie im Grunde wußte, daß es die Neugier auf den Mann war.
    Auf der Piazza del Popólo nahmen sie Espresso und Sonne in einem Café neben den Zwillingskirchen, die sich eifersüchtig bewachten, Königskinder der Frömmigkeit, Dioskuren der Verschwendung.
    Auf rohen Holzschemeln saßen alte Frauen vor ihren Häusern, schwatzten, strickten und lächelten den Kindern zu, die um sie herumtollten. Es lächelten die Palmen mit flüsternden Blättern; es lächelten die Brunnenfiguren mit plätscherndem Wasser. Auf den warmen Blechdächern parkender Autos lächelten die Katzen im Schlummer, satt und geschützt am Tiber wie die heiligen Kühe am Ganges. Die Priester in den strengen dunklen Gewändern lächelten; die Fassaden der Basiliken lächelten, deren Schutzpatrone es an diesem Tag aufgaben, sich ihre Gläubigen abspenstig zu machen. Es lächelten die Barockmuscheln, die antiken Säulen, die armlosen Statuen und die Gelati-Verkäufer. In der Macelleria lächelte der Schlächter mit der weißen Schürze; in der Kirche lächelten die Nonnen im Gebet; der Barmann an der Kaffeemaschine lächelte, und selbst die lauten Straßendirnen lächelten. Ganz Rom lächelte: mit Martins Mund, mit Evas Lippen.
    Vier junge Männer trugen einen schweren hölzernen Heiligen aus dem dunklen Portal der Kirche. Er war schlicht und schlecht geschnitzt; eine unförmige Nase sprang aus seinem grobschlächtigen weißen Gesicht. Er kam aus dem Dunkel der Andacht in das Lichtmeer des Tages. Er sah die strickenden alten Frauen, die lärmenden spielenden Kinder, die langbeinigen glutäugigen Mädchen auf den Vespas, die kräftigen lächelnden Männer, die ihn trugen. Die Sonne umfloß ihn wie ein Strahlenkranz, und das Holz, aus dem der Heilige geschnitzt war, begann zu leben, zu lächeln.
    »Siehst du, Eva«, sagte Martin, »dieser Stadt fehlt der Eishauch des Nordens, Roms Frömmigkeit ist frei von zergrübelnden, vergrämten Gedanken. Ich bin nicht katholisch«, setzte er hinzu, »aber Rom macht mich, den Papierprotestanten, zum Tages-Konvertiten.«
    Eva wunderte sich über seine Worte, sie verfolgte Ebbe und Flut in seinem Gesicht.
    »Ich spüre diese Stadt auf der Haut«, sagte er, »du gehst durch ihre Triumphbögen und vergißt deine Niederlagen, du schwimmst in einem Meer von Farben und Lichtern, von Seufzern und Lastern«, er sprach, als träume er, »alles nebeneinander, hautnah und blutwarm: Sterben und süßes Leben. Du löffelst deinen capuccino- und stehst neben der Stelle, an der Cäsar starb; du fährst über die Straße, auf der Petrus fliehen wollte; du ißt deine fettucine an einem Tisch, an dem schon Goethe saß; und auf dem Forum, dem Mittelpunkt der Alten Welt, wuchert Gras, in dem die Vögel nisten …«
    Ja, dachte Eva, Martin ist immer anders, als man meint. Wenn du dich auf ihn als Verführer einstellst, kommt er als Historiker; wenn seine Miene feierlich wird, wirft er mit Banalitäten um sich; wenn du auf einen Witz wartest, wird er fromm. Er spielt ständig – er spielt Versteck: schroff, wenn er sich erkannt sieht, arrogant, wenn er ergriffen ist …
    »Rom ist hundertmal gestorben und lebt immer noch«, fuhr Martin fort, »du gehst an Barockkirchen vorbei, die aus Bordellen entstanden sind, an Renaissancebauten, die nur die Kloaken maskierten, du stehst vor Ruinen, in denen man Bestien auf Menschen hetzte, bis die Menschen schließlich die Bestien besiegten, Verrückte, die Liebe predigten; ihre Lehre entstieg wie eine Schlupfwespe dem Leichnam der Antike und siegte, um später selbst in Haß zu verfallen. Du schreitest über den schönsten, verdorbensten, heiligsten und blutigsten Boden der Erde …«
    Er betet diese Stadt an wie eine Geliebte, dachte Eva, Rom ist meine Rivalin.
    »Und ich mag

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