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Die wilden Jahre

Die wilden Jahre

Titel: Die wilden Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Will Berthold
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welchem das Leben wild und mächtig wucherte.
    »Ich habe keine Angst«, entgegnete Madame Rignier, »aber bevor ich mich Ihnen anvertraue, muß ich Sie etwas fragen, mon docteur.«
    »Bitte, Madame.«
    »Alles, was Sie hören und feststellen, fällt unter ärztliche Schweigepflicht?«
    »Sicher«, antwortete Dr. Vernier höflich.
    »Auch – den nächsten Angehörigen gegenüber?«
    »Ganz gewiß, Madame, aber das ist doch allgemein …« Der Professor zwang sich, die Patientin anzuschauen. Wieder hatte er das seltsam gespannte Gefühl im Rücken, als er ihr Gesicht betrachtete, das etwas Entrücktes, Unwirkliches hatte.
    »Sie brauchen mich nicht zu untersuchen, mon docteur«, sagte sie, während Vernier wieder zum Fenster hinaussah, sich zur Ruhe zwingend, seinen Widerwillen bannend. »Ich habe Leukämie«, erklärte sie mit fester Stimme.
    Gewaltsam wandte der Arzt den Kopf.
    »Ich habe es mir gedacht«, sagte er leise.
    »Sieht man es?« fragte sie ängstlich, und der Professor erfasste Tragödie und Tapferkeit, Leid und Energie dieser zierlichen Frau, die sich schwerelos heiter gab und schon vom Tod gezeichnet war.
    »Madame«, fragte Professor Vernier mit unsicherer Stimme, »wie lange wollen Sie diese Krankheit noch verheimlichen?«
    »Solange es geht«, antwortete sie, während das blasse Lächeln auf ihrem Gesicht steif wurde, hart. »Und Sie werden mir dabei helfen«, forderte sie, und der Arzt spürte die ungeheure Kraft, die von ihr ausging.
    Seine Aktien hatten den vierfachen Wert, als Martin seine Mutter elf Tage später in der Klinik abholte, und so gelassen er auch immer in Gelddingen war, überfiel er Maman doch mit stürmischem Jubel, weil er den größten Erfolg seiner Laufbahn errungen und sein Vermögen mindestens verdoppelt hatte.
    Die Freude über das Wiedersehen stand Madame gut, rötete ihr Gesicht, belebte ihre Augen. Martin betrachtete sie dankbar und ergriffen. »Wo ist dieser Wunderarzt?« fragte er. »Ich muß ihn sprechen!«
    »Im Ordinationsraum«, erwiderte Maman lächelnd, »écoute, mon petit«, sagte sie, sich an Martin lehnend, »il est drôle – wie sagt man in Deutsch?«
    »Er ist ein Kauz«, übersetzte er frei.
    »'alte ihn nicht so lange auf.«
    Professor Vernier empfing ihn stehend, in der Haltung des Mannes, dessen Zeit begrenzt ist. »Der Patientin geht es gut«, sagte er, »den Umständen entsprechend. Passen Sie gut auf sie auf, überanstrengen Sie sie nicht.« Er sprach nicht unaufhörlich, aber rasch, ein Mann, der ein Gespräch zügig beenden möchte. »Madame Rignier braucht Ruhe. Fürsorge«, er nickte, »aber das wissen Sie ja …«
    »Kein Grund zur Sorge?« fragte Martin.
    »Gegenwärtig nicht«, antwortete der Professor, um wenigstens verbale Unwahrheiten zu vermeiden. »Au revoir, Monsieur.«
    Im Wagen betrachtete ihn Maman forschend von der Seite, aber er merkte es nicht. »Content?« fragte sie.
    »Natürlich bin ich zufrieden«, bestätigte Martin.
    »'ast du nun noch eine andere Arzt für mich?« fragte sie heiter.
    »Nein, aber du mußt verstehen, Maman, ich wollte – Sicherheit.«
    »Nun 'ast du sie – aber jetzt erzähle, was du 'ast angestellt, filou.«
    Sie fuhren in das Hotel zurück, aus dem Eva bereits abgereist war, und Martin versuchte, einer Dame aus nobler Zeit Turniere dieser Zeit zu erklären.
    Der Durchbruch war am vierten Tag gekommen, als sich die Notierung überraschend verdoppelt hatte. Die City hielt es für einen Trick, und selbst gewiegte Börsenmakler beurteilten den Ansturm falsch; zu oft hatte Ritt geblufft, und so unterschätzten sie das Börsengewitter: der Run wurde zum Rummel, der Rummel zum Run. Die Zeitungen forderten Besonnenheit, überrannt von Sturm und Drang der neuen Käufer. Ritts Name wurde zur Magie – die Kauflust zur Manie.
    Bei vierhundert stiegen die ersten Fachleute ein, verspätet, doch nicht zu spät.
    Bei fünfhundert wurden selbst Bankleute nervös.
    Bei sechshundert gab Schiele seine Anteile ab und wurde mehrfacher Millionär.
    Bei siebenhundert – zwanzig Tage nach Ausgabe – wurde Martin die Entwicklung selbst unheimlich, und er versuchte, die Siedehitze zu dämpfen, indem er weitere Papiere auf den Markt warf; aber er schüttete Öl ins Feuer. Blindwütige Kleinspekulanten kauften wie besessen, um jeden Preis. Es hatte sich herumgesprochen, welche Gewinne die ersten Käufer erzielten, und so gab es kein Halten mehr – jeden reellen Gegenwert ignorierend, kletterten die Kurse weiter. Man

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