Die wilden Jahre
weiterleben und daß es ein erheblicher Unterschied ist, ob Sie fünf oder zehn Jahre brummen.« Er blieb stehen. »Hoffentlich erfassen Sie das nicht zu spät.« Der Kommissar setzte den Fuß auf den Stuhl. »Wissen Sie, wer über die Haftzeit entscheidet?« Er beugte sich zu dem zusammengekauerten, nicht mehr so lethargischen Mann hinab: »Nicht der Richter, nicht der Staatsanwalt, nicht ich …« Er ließ den Untersuchungsgefangenen nicht aus dem Blick. »Sie, Wirth, bestimmen das jetzt.«
Der Verdächtige schwieg.
»Überführt sind Sie bereits«, setzte Kubitzka hinzu, »nur wenn Sie sprechen, fassen wir Ihre Hintermänner. Daraufkommt es uns vor allem an, und das heißt juristisch: tätige Reue, mildernde Umstände und so weiter.«
Er klingelte einem Polizisten, der Wirth in die nebenanliegende, zweckentfremdete Krankenstube abführen sollte.
»Ich dränge Sie nicht«, stellte Kubitzka fest, »überlegen Sie sich's – wenn Sie ein paar Tage früher sprechen, ersparen Sie sich ein paar Jahre.« Er warf ihm ein angebrochenes Päckchen Zigaretten zu. »Nehmen Sie das mit. Unsere Frist beginnt erst morgen.«
Erstmals sprach Wirth, mit unsicherer, gepresster Stimme: »Das sagen Sie … Aber wer …?«
»Wer es garantiert?« fragte der Kriminalist schroff. »Ihr Verstand, Mann!«
»Bitte, ich möchte – ich kann …«
»Ich habe jetzt zu tun.« Kubitzka winkte dem Wärter, mit Wirth weiterzugehen. »Wir sprechen uns erst wieder, wenn Sie ein Geständnis ablegen wollen.« Er nickte dem Verdächtigen noch einmal zu. »Oder auch nicht, und das würde für Sie heißen: im Gerichtssaal.«
Wirth stand an der Tür. Auf seinem grauen Gesicht lag die Angst wie eine Schicht, porös durch Hoffnung.
Bereits ein paar Stunden später ließ er sich vorführen, versuchte Ausflüchte und Rückversicherungen, aber der Kommissar unterbrach ihn. »Wollen Sie reden oder nicht?« fragte er mit sanfter Stimme. »Sonst halten sie mich bitte nicht auf.«
Dann drohte Kubitzka mit dem Äußersten – und versprach gleichzeitig das Möglichste: es war eine durchschlagende, berechnend weiche Methode, die sich schon oft bewährt hatte. Er merkte, daß Wirth, zwischen Reue und Selbsterhaltung schwankend, seinen Widerstand aufgab und halbgare Zusammenhänge gestand, die er vielleicht selbst nie richtig erfasst hatte, und so entstand die Kolportagefabel eines Groschenromans: redlicher Beamter mit abwegiger Spielleidenschaft, hohe Verluste, Griffe in die Kasse, drohende Entdeckung, ein plötzlicher Helfer, der sich später als Erpresser entpuppt und dem der subalterne eingeschüchterte Mann so blind folgt, daß er künftig sogar dem Spiel nicht mehr nachzugehen wagt – bis auf einen Besuch in Bad Neuenahr, der ihm zufällig zum Verhängnis wird.
Der unverdächtige Beamte hatte es leicht gehabt. Bekannt für seinen Fleiß, konnte er durch Überstunden nicht auffallen. Wenn er allein im Büro war, nahm er die Unterlagen aus dem Tresor mit nach Haus, fotografierte sie und legte die Dokumente am Morgen, stets der erste in seiner Dienststelle, wieder in den Safe zurück. Zwar war Wirth als Geheimnisträger laufend überwacht worden, aber so lange nicht aufgefallen, bis ein Überläufer Pankows geheime Schriftstücke Bonns als Morgengabe vorwies.
»Haben Sie nur bestimmte Dokumente gesucht?«
»Alle.«
»Also auch die Unterlagen für den Umlauf-Ausschuss?«
»Vermutlich«, antwortete der Amtmann, Kubitzkas Augen ausweichend.
»Wieso wissen Sie das nicht genau?«
»Ich griff einfach hinein, nahm einen Stapel, brachte ihn zurück, holte später den nächsten.«
Der Kommissar zweifelte nicht daran, daß diese Aussage stimmte. Wirth hatte so viele Unterlagen vervielfältigt, daß er keine Zeit fand, sie alle durchzulesen. Er hatte dann an eine Deckadresse einen Ansichtskartengruß geschickt, der bedeutete, daß neue Fotokopien bereitlagen, war umgehend angerufen und zu einem jeweils anderen Treffpunkt bestellt worden.
»Ich wollte es nicht«, beteuerte Wirth, »ich habe auch kein Geld mehr erhalten, aber die Leute drohten …«
»Schon klar«, erwiderte Kubitzka. »Wann haben Sie diesen Müller zuletzt getroffen?«
»Vor vierzehn Tagen.«
»In welchen Abständen haben Sie ihn gesehen?«
»Etwa alle drei Wochen.«
»Gut, wir ziehen um, in Ihre Wohnung.«
Der Dienststelle wurde mitgeteilt, daß Wirth nicht operiert werden müsse, dem Patienten aber noch ein paar Tage Bettruhe verordnet seien. Drei Tage lang war Kubitzka
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