Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die wilden Jahre

Die wilden Jahre

Titel: Die wilden Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Will Berthold
Vom Netzwerk:
gratis …«
    »Du Glückspilz«, erwiderte Eva.
    »Hübsch, diese Vernier-Klinik«, erzählte Martin, »wenn man mich auch schlecht behandelt hat.«
    Ein Boy brachte neue Fernschreiben, die Mittagskurse. Ritt notierte mit einhundertdrei, einen halben Punkt höher als am Morgen.
    »Zufrieden?« fragte Eva.
    »Zufrieden bin ich nie«, antwortete er, »höchstens mit dir. Befriedigt werde ich in einer Woche sein, wohlhabend vielleicht in vierzehn Tagen – … Hast du eigentlich Geld?«
    »Nicht viel.«
    »Dann kauf Ritt-Aktien!« riet er. »Erstens zieht der Kurs dann an, und außerdem hast du einen Notgroschen für den Sparstrumpf.«
    Es war kein Grund vorhanden, so gelassen zu sein, aber Martin wußte Maman versorgt und brauchte Eva nicht zu verstecken, wie es schon bald wieder an der Côte d'Azur geschehen müßte.
    Einige Stunden später rief Schiele an und berichtete, daß sich an der Börsenstimmung nichts geändert habe, wenn auch die Kurse weiterhin eine leicht anziehende Tendenz zeigten; andere Makler würden jedoch nicht einsteigen, da man die bescheidenen Gewinne auf Selbstkäufe zurückführe, mit denen eine schwache Firma ihre ungängige Ware aufwerten und ihren Reinfall vertuschen wolle.
    »Wer kauft denn nun wirklich?« fragte Martin.
    »Ich«, antwortete der Jurist mit grämlicher Stimme.
    »Es ist mir lieber, Sie kaufen, als daß Sie aussteigen«, erwiderte Martin lachend.
    »Kauft er wirklich Ritt-Aktien?« fragte Eva.
    »Sicher ein Scherz«, antwortete Martin.
    »Wenn man sie erwerben würde …«
    »… wäre es ein Geschäft«, behauptete Martin.
    »Warum tust du es dann nicht selbst?« fragte Eva mit logischem Unverstand.
    »Weil ich, um kaufen zu können, meine Aktien erst verkaufen müßte.«
    »Das wäre doch Schwachsinn!«
    »Außerdem –«, erwiderte er. »Aber du hast schon viel erfasst, Aschenbrödel.« Er zog Eva zärtlich an sich, doch das Telefon klingelte schon wieder.
    Professor Vernier hatte die neue Patientin, wie gewohnt, mit »Grüezi!« empfangen; dann war sein Schwyzerdütsch automatisch in die Schriftsprache übergegangen, um sofort in schnelles Französisch zu verfallen, die Muttersprache des gebürtigen Genfers. Der Arzt war schlank, höflich, Ästhet im Aussehen wie im Gebaren, und auf Madame Rignier wirkte sein Ordinationsraum wie ein Herrensalon.
    Sie war die erste Patientin, die von Professor Sturm an ihn abgetreten wurde, und so überlegte die Züricher Kapazität gespannt, was die Frankfurter Instanz dazu bewogen haben könnte. Die Professoren hatten sich zwar persönlich nur flüchtig auf einem internationalen Internistenkongreß kennen gelernt, aber ihren Namen waren sie immer wieder in medizinischen Fachzeitschriften begegnet.
    »Wie geht es Monsieur Sturm?« fragte Vernier.
    »Er achtet sehr auf sich.«
    »Ein hervorragender Arzt«, begann der Professor behutsam.
    »Er ist auch mein Freund«, entgegnete die Französin lebhaft.
    Vernier wußte, daß Sturm schwer herzkrank war, wie auch der Frankfurter Internist viele Eigentümlichkeiten seines Zürcher Kollegen kannte. Er wußte, daß Vernier beim Eintreffen eines Patienten nie eine Krankengeschichte las, sondern erst vor seiner Entlassung; wenn seine Diagnose von den Feststellungen anderer Ärzte abwich, durfte er sicher sein, daß der Irrtum nicht ihm unterlaufen war.
    Man wußte von Vernier, daß er Gesunden immense und Kranken maßvolle Honorare abverlangte; daß er oft tagelang verstört war, wenn er einen Toten gesehen hatte, war seiner näheren Umgebung bekannt, nicht jedoch, daß er bei einem Psychiater wegen Nekrophobie in ständiger Behandlung war.
    »Ich hoffe, Madame, Sie gewöhnen sich bei mir gut ein. Leider muß ich Sie bitten, unsere Kost zu teilen, aber sie ist sehr bekömmlich …«
    Die Patientin nickte ihm lächelnd zu, und der Professor betrachtete die zierliche Gestalt, das schmale Gesicht, die eingefallenen, gebräunten Wangen, die großen fiebrigen Augen. Er war ein exakter Wissenschaftler, aber seine ersten Eindrücke überließ er dem Gefühl: wenn sich seine Rückenhaut spannte, wußte er – ohne es jemals zuzugeben –, daß er einen schwerkranken Menschen vor sich hatte.
    »Sie wissen, Madame, wir Mediziner sind indiskret. Ich muß Sie viele dumme Dinge fragen, aber Sie brauchen sich nicht zu ängstigen. Sie kennen ja die üblichen Untersuchungen.« Er sah die Patientin, spürte zerrenden Druck in seinem Rücken, wich ihren Augen aus, blickte nach draußen, in den Garten, in

Weitere Kostenlose Bücher