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Die wilden Jahre

Die wilden Jahre

Titel: Die wilden Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Will Berthold
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»Na, wie ist es denn hier?«
    »Sieh dir's an!« entgegnete Martin unwirsch und überlegte, wer ausgerechnet Rothauch an den Freitisch von Caux gebeten haben konnte.
    Am nächsten Morgen hatte sich Martin in einem der unzähligen, verschnörkelten, verlebten, prunksüchtigen-liederlichen Säle einzufinden, in denen die Meetings stattfanden. Man saß in bunter Reihe, zwischen Plüsch und Stuck, um einen altmodischen französischen Kamin, der nicht brannte, und zerpflückte sein eigenes Leben, verwarf es und gelobte Besserung. Martin wurde einer Anfängergruppe zugewiesen, die ein Englisch amerikanischer Herkunft sprach. Er wünschte sich Felix hierher, der sich bald in einem Münchner Militärhospital einer härteren Prozedur unterwerfen mußte.
    »Man muß die Menschen ändern«, begann ein Einweiser die Neulinge zu unterrichten, »dann ändert sich die Welt von selbst. Jeder von uns kann, muß dazu beitragen – und so wollen wir auch bei uns beginnen, wollen einzeln wie gemeinsam darüber nachdenken, was wir für unsere Mitmenschen tun können.«
    Der Mann sprach ruhig, sicher, im steten Fluß der Gewöhnung, und während er sagte, GOTT stehe auf der Kommandobrücke, GOTT werde die soziale Frage lösen, GOTT seidabei, die Ehe zu retten, GOTT verspreche, das Ruhrgebiet vor dem Kommunismus zu bewahren, GOTT habe den amerikanischen Präsidenten erleuchtet, spähten seine Augen in der Runde nach brauchbaren Bekennern.
    Martin stieß sich daran, daß der Leiter GOTT wieein neues Haarwuchsmittel propagierte: es hörte sich an, als hätten die Oxford-Leute, die sich auf Ihn beriefen, noch nie etwas von dem zweiten Gebot vernommen, das ER erlassen.
    »Und jetzt«, rief der Diskussionsleiter, »wird Sie GOTT während einer stillen Besinnung erleuchten.«
    Gleichzeitig griffen die Stammgäste zu Papier und Bleistift. Die Novizen der neuen Moral mußten erst lernen, Eingebungen zu sammeln. Martin sah den Teilnehmern zu, die Zettel beschrieben, Blicke wechselten, während der Funktionär mit leerem Gesicht und fernem Blick langsam aus seiner Trance zu erwachen schien.
    »Aller Anfang ist schwer«, erklärte er mit wissender Stimme, »aber sicher hat der eine oder andere von Ihnen einen brauchbaren Gedanken für den rechten Weg …«
    Viele hatten ihn gleichzeitig. Gläubige saßen neben Gaffern, Fromme neben Fanatikern, ältliche Musterkinder in den Gärten des Guten neben internationalen Snobs, die in Caux dabei sein mußten wie in Bayreuth, Salzburg, Oberammergau oder bei den Olympischen Spielen.
    »Indeed – ziemlich langweilig heute«, sagte ein alter dünner Amerikaner mit vergreister Kinderstimme zu Martin. »Aber warten Sie noch ein paar Tage.« Sein vertrocknetes Gesicht lächelte lüstern.
    Die großen Bekehrungen leiteten Gongschläge ein. Glückwunschtelegramme aus aller Welt wurden vorgelesen, wenn ein bekannter Minister, ein beneideter Krösus, ein berühmter General oder ein berüchtigter Kommunist sich öffentlich gebessert hatten.
    Die Übertragung wurde in einen anderen Saal umgeschaltet. Die ›Gruppe Rom‹ war an der Reihe. Ein Márchese schilderte mit bejahrter Stimme einen verjährten Ehebruch. Der Amerikaner legte die Harke beiseite, horchte und stellte verdrossen fest, daß der Sünder italienisch sprach.
    »Do you understand that crazy people?«
    »No Mr. …«
    »Anderson«, stellte sich der Mann mit dem Mumienkopf vor. Er reichte Martin die Hand, hinter der kein Druck mehr, aber noch immer eine Macht stand: Mr. Anderson war einer der Großen von Wallstreet und ein Oldtimer von Caux.
    »Well«, fuhr der Bankier fort, der mehr für Kurzweil als Erbauung war, »wenn wir erst einmal richtig in Fahrt kommen – Sie werden staunen.« Seine Lider zogen sich über die Augen, verhängten die Iris, gaben nur noch einen kleinen Schlitz frei: die Optik eines Voyeurs mit scharfen Ohren.
    Martin ließ Mr. Anderson stehen und gesellte sich zu einer Gruppe auf der anderen Seite des Mountain-House. T AX ihr gehörten jüngere Leute, die den Weg säuberten und laut zu lachen wagten.
    Hier wurde das Geschehen aus der Bibliothek übertragen. Nach der Hausordnung sollten sich auch die Außenarbeiter zur Diskussion melden, so sie zum Thema beitragen konnten. Der Wind verwehte Wort zu Silben. Die Zuhörer – eine Gruppe aus Toulouse – wandten sich wieder ihrer Arbeit zu, als sie merkten, daß die Gespräche in deutscher Sprache übertragen wurden.
    Der Lautsprecher schien gestört zu sein. Nebengeräusche

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