Die wilden Jahre
kletterte mühelos über zerklüftete Bergrücken und badete groß und schamlos im Genfer See, dessen sanfte Wellen sein altes eitles Spiegelbild neckten.
Martin war von den Tischen des Speisesaals geflohen; man riß sich um ihn, seitdem Bettina geplaudert hatte. Nun war er kein unauffälliger Unbekannter mehr, sondern ›dieser herbe junge Mann mit dem schweren Schicksal‹. Er wurde bestaunt, eingeladen, umsorgt; die Zöglinge der Besserung benahmen sich, als wollten sie ihm den Vater ersetzen.
Martin ließ sich von der mondhellen Nacht nicht verzaubern, seine Gedanken blieben wild und ungut. Es wurde Zeit, das Mountain-House zu verlassen, das ihm die Reise ermöglicht hatte. In seinem Gepäck lag der Dossier Kahn – die Fotokopien jedenfalls, das Original war in München verwahrt –, und er hatte schon bei seiner Einreise in die Schweiz, mit einem flüchtigen Blick in das Telefonbuch, den erfolgreichen Herrn Panetzky gefunden, Inhaber einer Export-Import-Firma. Er brauchte Silbermann als Kronzeugen gegen Panetzky, diesen ehrenwerten Geschäftsmann der City von Zürich, entschlossen den verjährten Menschenhandel noch einmal aufzurollen.
An der Art, wie sie am nächsten Morgen an die Tür klopfte, hatte Martin bereits Bettina erkannt, bevor sie eingetreten war. Sie trug ein Kopftuch und eine Schürze und schickte eine zweite Frau, die sie begleitete, in den nächsten Raum, gab sich betont fröhlich, und ihr geschiedener Mann erfaßte, daß ihr die Säuberung des Zimmers nur als Vorwand diente: Bettina wollte mit ihm, Martin, sprechen, allein und ohne Zeugen.
»Was kann ich für dich tun?« fragte Martin.
»Viel«, erwiderte Bettina. »Aber ich weiß nicht recht – wie ich …«
»In Caux lügt man nicht«, versetzte er lachend.
Bettina wich ihm aus, versuchte erst zu erklären, warum sie Dr. Schlemmer geheiratet habe: Martin erfuhr, daß Scheidung und Staatsexamen fast auf den Tag genau zusammengefallen waren. Als Referendarin hatte sie den um zwanzig Jahre älteren verwitweten Wirtschaftsanwalt kennengelernt und, tüchtig wie sie war, zudem resolut und ehrgeizig, sich rasch entschlossen, ihn zu heiraten – ein halbes Jahr vor dem Weltuntergang des Jahres neunzehnhundertfünfundvierzig.
Die meisten Menschen waren vom Zusammenbruch angeschlagen, aber Bettina hob sofort den Kopf aus den Trümmern, erkennend, daß aus dem zerschmetterten Großdeutschland einmal wieder ein Staatsgebilde werden würde, mit Parteien, die sich die Macht teilen, und mit Politikern, die sie ausüben würden; daß Heinrich, ihr zweiter Mann, während des Dritten Reiches ›unpolitisch‹ gewesen war, wertete Bettina als ein selbst zu Reichsmarkzeiten wertbeständiges Kapital.
Bettina riet ihm, sich möglichst früh einer Partei anzuschließen. Aber welcher? Schwankend zwischen links und rechts, zwischen demokratischen Sozialisten und christlichen Konservativen, überredete sie ihn schließlich zu der Partei, die zwar bürgerlich, aber bei ihrer Entstehung noch für die Verstaatlichung der Grundindustrie war: Dr. Schlemmer kam gerade noch zurecht, um dem Kreis ihrer Mitbegründer zugerechnet zu werden; er wurde Ortsvorsitzender, Kreisvorsitzender, Landtagsabgeordneter, übernahm einen wirtschaftspolitischen Ausschuß und wartete auf die Währungsreform. »Denn erst dann empfiehlt es sich«, erläuterte Bettina, »nach einer Spitzenposition im neuen Staat zu trachten.«
»Kommen wir zur Sache!« unterbrach Martin die Zukunft des Dr. Schlemmer. »Du weißt ja schließlich immer, was du willst …«
»Danke«, erwiderte sie mit gespielt-verzagtem Lächeln.
»Und was willst du?«
»Mein Kind!« Hinter ihrem Lächeln lauerte die Spannung. Ihr Hals war zu lang. Sie wußte das und kaschierte es durch eine modische Kette. Ihr Körper war zu knochig; deshalb trug sie ein Blusenkleid mit schwingendem Rock. Extravaganz überspielte ihre Schwächen, sie hatte Geschmack und Verstand.
»Recht hübsch, das Kleid«, sagte Martin.
»Bitte, lenke nicht ab«, erwiderte sie, »ich spreche von Petra.«
»Die doch eigentlich Germaine heißen sollte, wie meine Mutter …«
»Mußt du so reden?« fragte die junge Frau gequält.
»Nein«, antwortete er. »Wie alt ist das Kind jetzt?«
»Schon über vier.«
»Hübsch?«
»Sehr.«
»Sieht Petra mir ähnlich?«
»Ich glaube – ja.«
»Das glaubst du – oder fürchtest du?«
»Ich fürchte«, entgegnete Bettina, als scherze sie.
»Was bedrückt dich jetzt so?«
»Petra hält
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