Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die wilden Jahre

Die wilden Jahre

Titel: Die wilden Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Will Berthold
Vom Netzwerk:
mischten sich in die Worte einer Teilnehmerin, die mit fast männlicher Stimme sprach: »Damals habe ich als Frau versagt: Es war neunzehnhundertdreiundvierzig, nach Stalingrad. Mein Mann war Soldat. Offizier. Er führte ein Bataillon im Donezbecken gegen die Russen, und er hatte, wohl in einer Nervenkrise – oder auch, weil er gelernt hatte, den Krieg zu hassen, seine Stellung aufgegeben …«
    Die Stimme war Martin fremd, aber die Geschichte bekannt; betroffen stellte er sich neben den Lautsprecher.
    »… was einem dieser Feldgerichte schlimm genug erschien, ihn, meinen Mann, mit dem ich erst kurz verheiratet war, zum Tode …«
    »Zum Tode« – »zum Tode« – »zum Tode« – warf das Nebengebäude den Schall zurück.
    »Gewiß hätte ich ihn nicht retten können, aber ich hätte ihm beistehen sollen, ihm schreiben, ihn besuchen, ihn aufmuntern, um ihm den schweren, letzten Gang – ich …«
    Worte umzingelten Martin, kreisten ihn ein, eine Stimme ohne Höhen und Tiefen, stets gleichbleibend, interpunktionslos, hektisch, überhängende Prädikate, die ihr Subjekt suchten …
    »Ich – ich ließ ihn im Stich – aber – er war ein Verfemter des Regimes – ich wollte nicht, nein – es sollte kein Odium auf meinem Kind hängenbleiben, das eben geboren worden war. Eine Mutter denkt so. Vielleicht falsch, egoistisch, und sicher empfand es der Einsame in der Zelle als unfraulich …«
    »Un-fraulich«, »unfraulich«, »unfraulich«, schrie die Hauswand zurück.
    Bettina, dachte Martin, warf das Handwerkszeug auf den Rasen, ging in das Mountain-House, fragte sich in diesem weiträumigen Labyrinth mit Dutzenden von Sälen und Zimmern nach der Bibliothek durch, verirrte sich, erreichte sie, trat ein. Keiner beachtete ihn. Alle sahen gespannt auf eine junge Frau, deren Gesicht sich aus vielen unvorteilhaften Teilen zu einem aparten Ganzen verwob.
    »Ich habe – noch im Krieg – wieder geheiratet«, sagte die Bekennerin, der Reue und Rührung das Sprechen erschwerten, »und ich bin – sicher – vielleicht – wenn auch das Leben – jedenfalls glücklich – auch wenn dann immer wieder diese Gedanken kommen – wenn ich an den Mann denken muß, den ich verließ, und dann seine Verzweiflung sehe, wenn er mich anstarrt, eine ganze Nacht, am Morgen – mit den Augen seines Kindes, und ich …«
    Sie konnte nicht weitersprechen.
    Der Mann neben ihr legte ihr den Arm um die Schultern, sprach leise auf sie ein, und sie legte den Kopf in ihre flachen Hände. Ein paar Teilnehmer weinten mit, andere sahen auf den Boden.
    »Stille Einkehr«, rief der Leiter.
    Martin stand neben dem Eingang und betrachtete Bettina. Sie ist etwas voller geworden, dachte er, aber sie hat immer noch diese knochigen fleischlosen Kniescheiben.
    Sie löste ihre Hände, sah langsam auf, ordnete ihr Gesicht dabei, nahm die Teilnahme entgegen, merkte, daß man bei Tisch von ihr sprechen würde, sondierte die Wirkung, sah zur Tür hin …
    Auf ihrer Netzhaut schwamm ein unsinniges Bild – und so sehr sie sich zur Ruhe zwang, sie sah Martin, ihren erschossenen Mann, und er lächelte ihr spöttisch zu.
    »Ein Wunder«, sagte Bettina später im Garten, »ein unglaubliches, schönes – ein echtes Wunder –, ehrlich, Martin, ich freue mich aufrichtig, daß du lebst.«
    »Hier geschehen manche Wunder«, höhnte er, »es beglückt mich, daß ich mich nun bei meinem Gastgeber revanchieren kann …«
    »Aber wie ist das möglich, daß man …«
    »… mich nicht erschossen hat?« fragte Martin. »Ich bin rechtzeitig davongelaufen.«
    »Daß wir uns gerade hier sehen – bei der Moralischen Aufrüstung, das halte ich für bemerkenswert, für symbolisch – es ist – auch noch in einem Moment, in dem ich so – so …«
    »… verzweifelt war«, unterbrach Martin sie, »wie ich bei meiner Exekution gewesen wäre, die niemals stattfand.«
    Sie lachten beide. Bettina schob ihre Hand in seinen Arm, zog ihn mit, und Martin erriet, daß sie seiner erst sicher sein wollte, bevor sie ihn herumreichte.
    »Wir reden aneinander vorbei«, Bettina sprach wie aufgezogen, »aber was sollten wir auch sonst tun? Vielleicht hast du ganz recht mit deinem alten Rezept: Spott ist immer gut gegen Melancholie …«
    Sie sprach ohne Unterbrechung weiter, in ihrer strömenden, treibenden Diktion. Martin brauchte Bettina nichts zu fragen; das war ihm recht. Sie heiße jetzt Schlemmer, ob ihm der Name etwas sage?
    Nein, mußte Martin

Weitere Kostenlose Bücher