Die wilden Jahre
im Auto und auf Dienstreise, im First-Class-Hotel oder in der Wohnung des Nachbarn, blühende Sünden, verwelkte Sünden, vertraute Sünden. Es schien Martin, als trügen auch die Zuhörer den Glanz der Bekehrung im Auge und die Röte der Rührung auf den Wangen.
Am Nachmittag griff sich Martin den bekehrten Silbermann.
»Ich heiße Ritt«, sagte er.
Das Gesicht des Internierten zuckte.
»Ich – ich bin unschuldig …«, stöhnte Silbermann, »ich wurde …«
Martin zog ihn mit sich, faßte ihn am Arm.
»Schluß«, sagte er, »die Bekehrung findet im Saal statt. Hören Sie zu – es geht um die Sache Kahn.«
»Kahn?« fragte Silbermann. Sein Birnenkopf pendelte unruhig auf dem zu dünnen Stiel des Halses.
»Kahn?«
»Ja – was ist aus ihnen geworden?«
»Sie sind ausgewandert«, antwortete Silbermann. »Ihr Vater und ich haben ihnen dazu verholfen. Trauriger Fall …«, setzte er hinzu, »das Schiff, das sie nach Amerika bringen sollte, lief auf eine Mine. Sie sind …«
»Tot?« fragte Martin betroffen.
»Ja«, antwortete Silbermann hastig, »alle drei. Aber dafür können wir doch nichts …«
»Und der vierte? Was ist mit Jakob Kahn geschehen?«
Silbermanns Augen kreisten unruhig.
»Er ist in – Auschwitz …«
»Sie haben ihn dorthin schaffen lassen?«
»Nein«, beteuerte der Birnenkopf.
»Mein Vater?«
»Nein!« antwortete Silbermann, gewürgt von Angst.
»Sie meinen, ich glaube Ihnen das?«
»Ihr Vater war vielleicht …«
»Was?« fragte Martin scharf.
»… besser als Sie annehmen …«
»Aber Jakob Kahn ist tot.«
»Nicht unseretwegen«, begehrte Silbermann auf, »das hat Panetzky hinter unserem Rücken gemacht, über das Reichssicherheitshauptamt – da sind wir ganz …«
»Hören Sie gut zu«, unterbrach Martin die Versicherungen des früheren Hoheitsträgers. »Ich sage Ihnen jetzt, was Sie zu tun haben. Ich sage es Ihnen nur ein einziges Mal.«
Der Internierte riskierte so wenig Widerspruch wie damals, als ihn Felix gezwungen hatte, gegen den alten Ritt auszusagen.
XVI
Möwen kreisten um die Geldpaläste der City, rassige Autos rollten über breite Straßen, riesige Schaufenster boten Überfluß feil. Frohgestimmte Touristen sahen den weißen Segelbooten zu, die bis an die Brücke heranschossen: Zürich, eine Hauptstadt des Wohlstandes, schickte sich an, die Drehscheibe Europas zu werden, und nichts erinnerte mehr an die bedrohte Insel, die sechs Jahre lang am Rande der Katastrophe gelebt und das Treibgut des Zweiten Weltkrieges aufgenommen hatte.
Martin genoß nicht die stille Heiterkeit dieser anmutigen Stadt, die ihre bürgerlich-behäbige Lebenslust von dem gestrengen vaterstädtischen Reformator immer noch ein wenig zügeln lassen mußte. Er sah nicht die frischen, flinkfüßigen Mädchen, die in die Straßencafes drängten, begierig auf die Näscherei wie auf das Leben; er schritt blicklos an den kultivierten lächelnden Damen vorbei, die Pudelhunde und Eleganz spazierenführten. Er lief die berühmte Straße entlang, in der die Welt einzukaufen pflegte.
Er suchte keinen Luxus, sondern einen Mann namens Panetzky, und er fand den Namen in großen Buchstaben auf dem funkelnden Messingschild an der Fassade eines üppigen Neubaus.
Der Portier, ein Herr im Maßanzug, öffnete höflich den Schnellift mit der Kabine aus Edelholz. Die Gänge waren breit, lichtvoll, die Zimmertüren aus geschnitztem Holz, die Stufen des kühngeschwungenen Treppenhauses aus Travertiner Marmor, die Decken mit Mosaikarbeiten verziert. Das Gebäude roch nach soliden Geschäften, nach gediegenem Reichtum.
Martin dachte an Lydia, an das lustige Mädchen im weißen Tennisrock, und seine Schritte wurden größer und schneller; hart warfen die Wände ihren Schall zurück. Er dachte an Jakob, Lydias Bruder, und er glaubte zu sehen, wie ihn die Uniformierten von der Mutter wegrissen, wie sie ihn weitertrieben, in den Waggon hinein, wie er an der Rampe stand, wie er in die Gaskammer gezerrt wurde.
Martins Arm preßte die Mappe mit den Unterlagen über die Herren Frederic Panetzky, Egon Silbermann und Friedrich Wilhelm Ritt fest an den Körper.
So mochte Lydia ihr Racket gehalten haben, als man sie vom Tennisplatz wies, und Martin hörte ihre letzten Worte wieder:
»Nach dem Krieg gibst du mir Revanche, nicht wahr?«
Martin riß die Tür des Vorzimmers auf; eine gepflegte Sekretärin mit roten Haaren, grüner Bluse und knappsitzendem Rock legte erschrocken ein Modejournal
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