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Die wilden Jahre

Die wilden Jahre

Titel: Die wilden Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Will Berthold
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Heinrich für ihren richtigen Vater.«
    »Ich habe nichts dagegen.«
    »Es handelt sich nicht um jetzt«, erwiderte sie. »Sie wird älter und größer werden und ich möchte nicht, daß du dann eines Tages …«
    Martin schwieg.
    »Wenn ich eine Ahnung gehabt hätte, daß du noch lebst, hätte ich selbstverständlich sie nicht in diesem Glauben …« – »Schon gut«, versetzte er scharf, »um was geht es denn nun eigentlich?«
    »Daß du dich nicht eines Tages aus einer Laune – oder vielleicht Wegen – einer Gefühlsregung – Petra näherst und ihr – das Vaterbild zerstörst …«
    »Das Vaterbild des Dr. Schlemmer …?«
    »Gewiß«, antwortete sie. Ihre Finger spielten mit ihrer Halskette. »Es ist die Bitte einer Mutter – für ihr Kind – Heinrich hat Petra adoptiert – und sie soll nie oder höchstens als Erwachsene erfahren, daß er nicht ihr leiblicher Vater …«
    Er blickte auf den Boden; er hatte Bettina nie wirklich gemocht und nie ernsthaft gewünscht, daß sie seine Frau würde. Sie hatte sich gegen ihn gestellt, aber das war ihm so gleichgültig geblieben wie die Frau.
    »Würdest du …«
    »… verzichten«, sagte er hart.
    »Du bist ein feiner Kerl, Martin«, entgegnete Bettina.
    »Halt den Mund!« antwortete er, stand auf und verließ das Zimmer.
    Leise, zögernd und vorübergehend ergriffen die in der Nacht aus Deutschland angekommenen Internierten in den Meeting- Sälen das Wort. Sie trugen einheitliche Gabardineanzüge, die wie Uniformen wirkten. Ihre Begleiter waren zugleich ihre Bewacher, Männer des Personals, die man der Einfachheit halber ebenfalls nach Caux eingeladen hatte, obwohl Männer ihres sozialen Niveaus sonst nicht oberhalb der Stadt Montreux anzutreffen waren.
    Martin kannte Egon Silbermann bereits, aber er war noch nicht an ihn herangekommen. Ein früherer Sonderrichter namens Link wurde in seinem Zimmer einquartiert. Man liebte kühne Paarungen, legte entliehene Nationalsozialisten mit geläuterten Kommunisten zusammen, verteilte sie auf die Zimmer der Geistlichen und Widerstandskämpfer, so wie die Manager des Mountain-House auch mit Vorliebe weiße Farmer und schwarze Afrikaner auf die Bühne stellten, die sich vor gerührten Zuschauern die Hände zu reichen hatten, worauf der Leiter des Meetings jeweils feststellte, daß die Moralische Aufrüstung die Rassenfrage für die Menschheit gelöst habe.
    Silbermann kam in eine Spitzengruppe, in die schließlich auch Martin wunschgemäß aufgenommen wurde. Der frühere Redakteur eines britischen Skandalblattes leitete sie und begann, freimütig Geschichten aus der Zeit vorzutragen, in der er noch Zeitungsenten erfunden hatte, um die Menschen zu unterhalten, statt sie zu bekehren.
    »Und jetzt«, sagte er, »darf ich die Teilnehmer bekannt machen, die gestern noch einer barbarischen Verblendung gedient haben und nun unserer Hilfe bedürfen, weil sie darum ringen, auf den rechten Weg …«
    Sie sprachen mit geschulten Stimmen einzeln, aber es klang, als beteuerten sie ihre Sprüche im Chor. Des Sonderrichters Link runde Fischaugen wirkten winzig, als er einräumte, daß seine Urteile ›doch zu hart‹ gewesen seien – und er ›Leid über manche Familie‹ gebracht habe.
    Die Auftritte waren kurz, wirkungsvoll und im Barackenlager sorgfältig einstudiert. Auf Kommando des früheren Skandalreporters kamen dann Männer der Resistance und umarmten unter Beifallsraunen ihre Feinde von gestern.
    Nach zwei Stunden erlaubte der Funktionär der MRA eine kurze Pause. Er erkannte, daß nach dem Verrauchen der ersten Sensation seine Gäste andere Sünden den politischen Verfehlungen vorzogen.
    »Ich habe erst jetzt erfahren«, wandte sich Dr. Link während der Unterhaltung an Martin, »wer sie sind … Im Lager war ich mit Ihrem verstorbenen Herrn Vater …«
    »Mein Vater wurde gehängt.«
    »Trauriger Fall«, erwiderte Link.
    Martin schwieg.
    Dr. Links Karpfenmund bewegte sich stumm. Der Sonderrichter wirkte nicht mehr reuig, sondern empört, aber er durfte es nicht sagen, wie manches in dieser Zeit.
    Die Pause war zu Ende; die Gäste gingen in den Saal zurück, zum Einmarsch der Sünden in die Arena der Bekehrung. Verfehlungen paradierten wie Gladiatoren, die wußten, daß sie im Staub der Besinnung verbluten müßten: schöne Sünden, üble Sünden, Sünden mit runden Busen, auf hochhackigen Schuhen und im Abendkleid, Sünden am Badestrand, am Waldrand, im Hotelbett und hinter dem Garderobenständer, Sünden

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