Die wilden Jahre
Ihnen kann ich von Mann zu Mann reden, Ritt. In einem bestimmten Stadium der Trunksucht läßt sich nach meiner Erfahrung etwa ein Drittel der Patienten noch entwöhnen …«
»Und?« fragte Martin.
»Über dieses Stadium war Felix längst hinaus. Er war …« Der Gastgeber klatschte dem Mädchen und ließ Kognak in schönen großen Schwenkern auftragen. »Aber Sie wissen ja.«
»Was besagt Ihre Erfahrung in diesen Fällen?«
»Ich habe keine«, antwortete der Arzt, »aber es gibt eine Statistik: Von hundert Entwöhnten werden ungefähr fünfundneunzig rückfällig.« Er sah, daß Martin erschrak, und setzte hinzu: »Felix hat aber eine Chance – er wurde nicht zu der Gewaltkur gezwungen, er hat sich ihr freiwillig unterworfen.«
Susanne kam zurück, und der Arzt forderte Martin mit einem Blick auf, das Thema zu wechseln.
Am Weihnachtsmorgen fuhren sie mit einem Armeewagen nach Garmisch. Die Luft war frisch, eine kalte Sonne beleuchtete den Winterzauber. Schneekristalle funkelten im Morgenlicht; es sah aus, als habe der Winter die Zweige der Tannen mit Schmuck und die Berggipfel mit Hermelin behängt.
Sie rollten über die Olympiastraße. Die Nebelschwaden der Nacht waren auf dem Asphalt zu Eis gefroren. Der Fahrer merkte es, als er bremsen mußte. Der schwere Wagen kam ins Schleudern, der Mann fing ihn auf und ließ sich jetzt Zeit. Kurz vor Mittag erreichten sie Garmisch.
Es wurden schöne, gemächliche Weihnachtstage. Felix hatte sich erholt, und Susanne lächelte beglückt, als sie sah, daß die Runzeln und Falten im Gesicht des Patienten zu schwinden begannen.
Der Abend begann stimmungsvoll und wurde ausgelassen. In der Ecke stand ein großer bunter Christbaum. Santa Claus, ein Sergeant, der sich nicht erst eine rote Nase umbinden mußte, ging von Tisch zu Tisch und verteilte die Gaben aus einem Sack: Susanne überreichte er Parfüm aus Paris, Dr. Snyder ein Kistchen Rotwein, Martin Whisky und Felix, der in das Gelächter einstimmte, drückte er eine Flasche Milch mit Babyschnuller in die Hand.
»Ihr Werk?« fragte Martin den Arzt.
»Dann sagen Sie schon danke, Hellseher«, erwiderte Dr. Snyder.
Die Army-Band spielte die amerikanische Nationalhymne, womit der feierliche Teil endete. Auch für Martin, der am Nebentisch einen hübschen weiblichen Oberleutnant der US-Army betrachtete; das Mädchen war gepflegt, adrett, langbeinig und unnahbar, trug zur Uniform Nylonstrümpfe und Verachtung.
Felix folgte Martins Augen.
»Gib dir keine Mühe«, sagte er, »die ist aus Boston, stocksteif und hochnäsig.«
»Von mir aus«, erwiderte Martin.
»Seid nicht kindisch«, bat Felix, »und macht eure Flaschen auf!« Er zog Susannes Hand an den Mund, küßte sie und hielt sie zärtlich streichelnd fest. »Ich bin froh, wenn ich das Zeug nicht zu trinken brauche.« Er zog die Nase hoch. »Außerdem habe ich ja mein Quantum schon hinter mir.«
Susanne blieb beim Orangensaft, aber Martin und der Arzt sprachen bald lauter und schneller, und als sie nach dem Patienten sahen, merkten sie, daß er sich mit Susanne zurückgezogen hatte.
Felix stand mit Susanne auf dem Balkon, auf dessen Brüstung flockiger Pulverschnee wie ein dicker Zuckerguß lag. Sie betrachteten die Häuser, deren Dächer sich stumm vor dem Frost duckten, und sahen zu den lustigen Schneeflocken hin, die um spitze Giebel wirbelten. Felix zog sie an sich, langsam, behutsam.
»Darf ich mir etwas wünschen?« fragte er.
Sie nickte.
»Der Doc hat mir erlaubt, daß ich in vierzehn Tagen wieder in das Office zurückgehe.«
»Ich weiß.«
»Aber ich möchte, daß du nicht mehr dort arbeitest … Verstehst du?«
Ihre Hand, die über seine Schläfe gefahren war, stockte.
»Verdammt noch mal, Susanne«, fuhr er heftig fort, »ich möchte, daß du deine albernen Papiere sammelst und dann Mrs. Lessing wirst!«
»Felix …«, sagte sie weich, während ihr Kopf sich in seine Nackenwölbung schmiegte und den Blick freigab in die schöne kalte Weihnachtsnacht, auf die weißen Tannen, die mit dem Mitternachtsblau verwuchsen, auf die Schneehänge und Kirchtürme.
In dem Moment schlugen die Glocken und riefen zur Mette; während Felix diese Bilder beglückt und ergriffen sah, verschwammen sie auf seiner Iris, als würde die Leinwand abgeblendet, auf der er ein Märchenland gesehen hatte, jenseits der sieben Berge – jenseits der vierzehn Jahre.
Unten begann Dr. Snyder jenen trinkenden Patienten zu gleichen, von denen nur jeder Dritte zu heilen war,
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