Die Wildkirsche. Erotischer Roman
hatte. Verstört schüttelte er den Kopf. Mit einem Mal fand er sich an einem fremden Ort wieder. Rasant huschten Bilder an seinem geistigen Auge vorbei, doch es gelang ihm nicht, sie festzuhalten und genauer zu betrachten. Ein Wald. Hohe Bäume. Hastige Schritte, Bedrohung, ausgeliefert!
»Schmeckt Ihnen der Tee nicht?«, fragte de Faucet und sah ihn auf diese unheimliche Weise an, die ihm bereits bei ihrem ersten Treffen auf Schloss Laquises Unbehagen bereitet hatte. »Vielleicht möchten Sie etwas Zucker?«
Julien nickte benommen und fuhr sich mit beiden Händen über die Augen. Sein Herz klopfte zum Zerspringen, doch er war bemüht, sich seine Unruhe nicht anmerken zu lassen. Er griff nach der kleinen Dose, um zwei Löffel Zucker in seinen Tee zu geben.
»Euer Angebot ist wahrlich großzügig. Mir fehlen die Worte!«, sagte Beaumont.
»Ich bitte Sie, mein lieber Beaumont. Es handelt sich nicht um eine einmalige Spende. Ich möchte Sie und Ihr Unterfangen langfristig unterstützen. Eine Schule für arme Kinder. Wie herzerwärmend.«
Das Gespräch wurde zu Juliens Bedauern in den Garten verlegt, wo sich die Herren nochmals zwei Stunden mit dem Thema beschäftigten. Er wusste, wie wichtig die Unterredung für Beaumont war. Daher machte er gute Miene zum bösen Spiel und versuchte ihrem Gespräch zu folgen, so gut es ging. Innerlich war er noch immer aufgewühlt, doch die Erinnerung an die fremde Frau verblasste nach und nach.
»Ach, es ist schon so spät«, sagte Beaumont endlich. »Ich hoffe, wir halten Euch nicht auf, Monsieur de Faucet?«
»Mitnichten, Doktor. Im Gegenteil, ich hatte gehofft, Sie würden bis zum Abendbrot bleiben. Wenn Sie möchten, zeige ich Ihnen meine umfangreiche Bibliothek. Sie müssen wissen, ich sammle Medizinbücher!«
In Beaumonts Augen trat ein Leuchten, das von großer Begeisterung zeugte. »Zu gern! Es stört dich doch nicht, nicht wahr, Julien?«
***
Lorraine fröstelte trotz der dicken Decken, in die man sie gehüllt hatte. Der Entführer hatte sie aus der Karosse in den Wald gezerrt, in eine Höhle verschleppt und ihre Arme und Beine zusammengebunden, sodass sie gezwungen war, in einer gekrümmten Haltung auszuharren. Alsdann hatte der Mann in der schwarzen Robe die Höhle verlassen. Lorraine hoffte, dass er zurückkehren würde. Da aber inzwischen gewiss zwei Stunden vergangen waren, ohne dass er wieder aufgetaucht war, hegte sie Zweifel daran. Allmählich begann Panik Besitz von ihr zu ergreifen.
»Sind Sie hier?«, rief sie so laut sie konnte. »Bitte sagen Sie mir, dass Sie hier sind.«
So absurd es war, doch in diesem Moment zog sie die Gegenwart ihres Entführers der Einsamkeit vor. Sie hatte keine Ahnung, wo sie sich befand. Der Wald von Gagnion war groß. Zudem hatten sie eine ordentliche Strecke mit der Kutsche zurückgelegt. Es war fraglich, ob sie den Weg nach Hause allein zurückfinden würde, wenn es ihr gelänge, sich zu befreien.
»Sind Sie hier?«, fragte sie noch einmal verzweifelt.
Er antwortete nicht.
Lorraines schlimme Befürchtung wurde zur Gewissheit. Der Fremde hatte sie allein an diesem unglückseligen Ort zurückgelassen. Aber warum? Was bezweckte er damit? Und was nützte sie ihm, wenn sie vor Angst einen Herzanfall erlitt oder wilden Tieren zum Opfer fiel? Aus der Ferne hörte sie den Ruf eines Käuzchens und das sanfte Rauschen des Windes.
Wenigstens war ihr Peiniger nicht auf den Gedanken gekommen sie zu knebeln, so konnte sie wenigstens aus Leibeskräften um Hilfe rufen. Minutenlang. Stundenlang. Bis ihre Stimme versagte. Doch niemand kam, um sie zu befreien.
Offenbar lag die Höhle fernab der Zivilisation. Das erklärte auch, warum dieser Schuft auf eine Knebelung verzichtet hatte. Sie konnte sich hier die Seele aus dem Leib schreien, ohne dass jemand auf sie aufmerksam würde. Tränen stiegen ihr in die Augen und rannen in salzigen Perlen über ihre Wangen. Würde er zurückkehren und nach ihr sehen, oder würde er sie elendig in diesem Loch verrecken lassen? Nein, er hatte sie in mehrere Wolldecken gehüllt. Offenbar wollte er nicht, dass sie erfror. Es war ihm wichtig, dass sie am Leben blieb. Aber was hatte er mit ihr vor? Und wer war der geheimnisvolle Meister, den er erwähnte?
***
»Herzlichen Dank für diesen angenehmen Tag!« Der Doktor reichte de Faucet die Hand und stieg in die Kutsche, die sein Gönner freundlicherweise für die Heimkehr zur Verfügung gestellt hatte.
»Es war mir eine Freude. Ich hoffe, auch Ihnen hat
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