Die Wildkirsche. Erotischer Roman
es ein wenig in meinem Hause gefallen, mein lieber Julien. Sie schienen mir die meiste Zeit ein wenig abwesend.«
»Verzeiht mir, ich war sehr müde«, sagte Julien und verneigte sich vor de Faucet. Er hatte keine Lust auf eine Ausdehnung der Konversation. Die letzten Stunden hatten ihn mürbe gemacht.
»Werden Sie mir nicht krank. Ich wünsche Ihnen eine gute Heimreise!«
Julien kletterte ohne ein weiteres Wort in die Karosse und setzte sich neben Beaumont. Während der Fahrt auf unebenen Wegen sprang eines der Räder durch das Ruckeln von der Achse, sodass der Kutscher die Pferde zum Stehen brachte und das Rad behelfsmäßig angebracht werden musste. Die Reparaturarbeiten dauerten bis zum Einbruch der Dunkelheit an, sodass Beaumont und Julien erst zu später Stunde Gagnion erreichten. Die Müdigkeit zwang Julien, sich ohne einen Trunk im Salon auf sein Zimmer zu schleppen. Er brachte es nicht einmal zustande, sich umzukleiden, sondern fiel wie er war ins Bett und schlief auf der Stelle ein.
Von sonderbaren Träumen blieb er jedoch auch in dieser Nacht nicht verschont. Zunächst hörte er nur ihren wunderschönen Gesang, dem er folgte und der ihn in einen prachtvollen Raum führte. Dann erblickte er die junge Maid, die an einer Harfe saß und ihn freundlich anlächelte. Ihr Gesicht war ihm vertraut, ohne dass er hätte sagen können, wo er es schon einmal gesehen hatte. Ein Mann stand im Schatten und lauschte ihrem Spiel. Obgleich Julien ihn nicht erkennen konnte, spürte er, dass von ihm keine Gefahr ausging, sondern Güte und Freundlichkeit. Erst jetzt bemerkte Julien, dass Tränen über seine Wangen rannen. Eine Hälfte seines Gesichts war gerötet und schmerzte. Jemand hatte ihm eine Ohrfeige verpasst und einen glühenden Abdruck auf seiner Haut hinterlassen. Als die junge Frau den Knaben sah, erhob sie sich, beugte sich zu ihm hinunter und zog ein Tuch aus seiner kleinen Jackentasche, mit dem sie seine Tränen zärtlich fortwischte.
»Wer hat dir das angetan?«, fragte sie leise.
»Der Küchenjunge. Er hat mich geschlagen.«
Nun flossen die Tränen in Sturzbächen über sein Gesicht. Die Maid versuchte ihn zu beruhigen, aber der Zorn und der anhaltende Schmerz ließen ihn immer wieder aufschluchzen.
»So beruhige dich.«
Aber Julien ließ sich nicht beruhigen.
»Der Edle verneigt sich, doch er beugt sich nicht«, vernahm er plötzlich die tiefe, gutmütige Stimme eines Mannes, der nun an ihn herantrat.
Da der Stoff noch immer seine Augen bedeckte, konnte er ihn jedoch nicht sehen. Julien verstand den Sinn der Worte nicht, doch er spürte instinktiv, dass sie bedeutsam waren. Als die junge Frau das Tuch von seinen Augen nahm und es in seine Jackentasche zurücksteckte, war der Mann verschwunden. Es schien, als habe er sich in Luft aufgelöst.
Er sah sich in dem Zimmer um. Alles um ihn herum erschien ihm fremd und vertraut zugleich. Genau wie die Frau, die noch immer vor ihm kniete und sanft anlächelte.
»Wie heißt du?«, fragte er die Maid, doch sie schwieg. »Sag mir deinen Namen. Ich bin sicher, ich kenne ihn! Er liegt mir auf der Zunge. Nur will er mir nicht einfallen.«
Sie nahm seine Hand und öffnete die Lippen, als wollte sie ihm die ersehnte Antwort geben, aber dann verzog sie mit einem Mal das Gesicht zu einer schrecklichen Grimasse. Verstört beobachtete er ihre Wandlung. Aus ihren Augen wich sämtliches Leben. Im nächsten Moment sank sie leblos zu Boden. Die Abdrücke zweier Hände bildeten sich an ihrem schlanken, schneeweißen Hals.
»Nein!«, stöhnte er gequält.
Ihr schmaler Körper versank Stück für Stück im Boden und löste sich dann vor seinen Augen auf. Julien zog an ihrer Hand, er wollte sie festhalten, an die Oberfläche zurückziehen. Doch der Sog, der sie in die Tiefe riss, war zu stark.
Schweißgebadet wachte Julien auf. Sein Brustkorb hob und senkte sich im hektischen Rhythmus seines Atems. Die Sonne schien warm durch das Fenster in sein Gesicht. Ein neuer Tag war angebrochen. Er war nicht mehr der kleine Junge aus seinem Traum. Er war wieder er selbst.
Langsam versuchte er sich zu beruhigen, kletterte aus dem Bett und machte sich auf den Weg in die Küche, wo ihn eine aufgeregte Leila empfing. Der Futternapf der Pudeldame war leer. Auch auf dem Tisch stand kein Frühstück, wie es sonst jeden Morgen der Fall war, wenn er hinunterkam. Beaumont war bereits außer Haus, um sich um seine Patienten zu kümmern. Und Lorraine hatte allem Anschein nach
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