Die Wildkirsche. Erotischer Roman
über die Bühne und erntete die Buhrufe und das Gelächter der Leute. Der Stab in seiner Hand zitterte, als Julien bedrohlich näher kam und sich dabei die Maske vom Gesicht riss, weil sie seine Sicht einschränkte. Chik wich bis an den Rand der Bühne zurück. Die Zuschauer hielten den Atem an. Als sie sich Aug in Aug gegenüberstanden, hob Chik halbherzig den Stock. In diesem Moment schnellte Juliens Hand vor und entriss ihm den Stab. Ein entsetzter Aufschrei ging durch die Menge, als er die Rute zu den Kulissen schleuderte.
»Tu mir nichts«, stammelte Chik aufgelöst. Als Julien daraufhin ein tiefes, grollendes Lachen ausstieß, verlor er jeglichen Mut, schlüpfte blitzschnell unter seinen Armen hindurch und rannte zum Käfig, in den er hineinkroch und die Tür hinter sich zuzog.
»So rufe doch jemand die Wachen!«, erklang eine hysterische Frauenstimme aus dem Publikum.
Niemand regte sich. Alle starrten gebannt auf die Bühne. Als Julien den Zwinger erreichte, schob er kurzerhand den Riegel vor. Nun war Chik der Gefangene.
»Dies Spiel zeigt uns, meine Damen und Herren, dass der Mensch trotz all seiner Errungenschaften der Natur unterlegen ist«, sagte Fromage, der plötzlich neben Julien stand, ihn am Arm packte und zum Bühnenrand zog. »Ich hoffe, unsere bescheidene Schau gefiel.«
Mit diesen Worten verbeugte er sich. Seine Hand legte sich auf Juliens Rücken und drückte dessen Oberkörper nach unten, um eine Verneigung anzudeuten. Es herrschte Stille. Niemand klatschte. Julien sah aus dem Augenwinkel Fromages schmerzverzerrtes Gesicht. Der Moment seines größten Triumphes war zu einer Niederlage geworden. Der Maître versuchte seine Fassung zu wahren, als er den Kopf hob und in die Menge blickte.
Da stand plötzlich ein einzelner Mann aus der ersten Reihe auf und applaudierte. »Bravo, Maître! Bravo!«
Als wäre dies ein Stichwort gewesen, stimmten die anderen mit ein. Der Applaus schwoll an, und Fromages Anspannung löste sich mit einem Mal. Überwältigt wischte er sich die Tränen aus den Augen und faltete dankbar die Hände.
Die Reihen erhoben sich nacheinander. »Hervorragend!« »Wie philosophisch!« »Ein denkwürdiges Schauspiel!«
Langsam ging der Vorhang zu. Berauscht vom anhaltenden Beifall harrte der Maître aus, hielt dabei Julien fest und zwang ihn, den Triumph mit ihm auszukosten, während die Bühnenarbeiter Chik aus seinem Zwinger befreiten.
»Ich danke Ihnen«, flüsterte Fromage schließlich. »Sie beide haben meine Schau zu einer einzigartigen Erfahrung gemacht. Ihr Honorar werde ich Ihnen sogleich ausstellen.«
Chik nickte zufrieden. »Wir sollten auf unseren Erfolg anstoßen, meinen Sie nicht auch, Maître.«
»Unbedingt Chik, unbedingt!«
Doch Julien stand nicht der Sinn nach einem Trunk und bat daher um eine kurze Pause, damit er sich sammeln konnte. Glücklicherweise zeigten Fromage und Chik Verständnis und erklärten, sie würden schon einmal in den Festsaal gehen und dort auf ihn warten. Julien zog sich zurück auf das Zimmer im ersten Stock, das ihm als Garderobe gedient hatte, und kleidete sich eilig um, denn er wollte nicht länger als nötig in dieser Aufmachung herumlaufen. Dann ließ er sich in den gepolsterten Sessel fallen, schloss die Augen und versuchte, sich nach der ganzen Aufregung zu entspannen. Doch selbst hier oben hörte er die Musik aus dem Ballsaal und das Geschwätz der Gäste. Auch in den Gängen herrschte reges Treiben. Schritte erschallten durch den Flur und machten vor seiner Tür Halt. Es klopfte.
»Monsieur Julien? Sie sind da?«
Julien seufzte. In diesem Schloss gab es offenbar keinen Ort, an dem man auch nur für kurze Zeit ungestört sein konnte. »Kommen Sie herein.«
Ein schlanker Diener mit Zopfperücke trat mit einem solch strahlend weißen Lächeln ein, wie Julien es nie zuvor gesehen hatte.
»Monsieur Julien, man erwartet Sie im kleinen Saal! Der Comte möchte Sie unbedingt kennenlernen.«
Überrascht hob er eine Braue. Der Graf persönlich wollte ihn sehen? Damit hatte er wahrlich nicht gerechnet. Er wusste nicht recht, was er davon halten sollte. Der junge Lakai schien seine Unsicherheit zu bemerken und redete ihm eilig zu.
»Es ist eine große Ehre, Monsieur! Nicht allen Künstlern ist dieses Privileg vergönnt. Sie haben offenbar Eindruck auf ihn gemacht.«
»Um ehrlich zu sein, wollte ich bald abreisen.« Nachdem er derart vor, allen Leuten gedemütigt worden war, verspürte er nicht die geringste Lust, mit dem Comte
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