Die Wildnis
waschen konnte und genug zu essen hatte, um Hunger und Krankheit abzuwehren –, hatte ihn vor den schlimmsten Auswirkungen der Wildnis bewahrt. Viele von den Heimkehrern waren kaum mehr als wandelnde Skelette.
Einer hatte keine Zähne mehr im Mund, seine Lippen waren von Geschwüren zerfressen, und ein Auge war milchigtrüb vor Schneeblindheit. Einem anderen waren beide Hände abgefroren, er ging schleppend die Straße hinauf und murmelte Worte vor sich hin, die offensichtlich keinen interessierten. Jack ging an ihnen vorbei zum Yukon Hotel, das in seiner Vertrautheit gleichzeitig deprimierend und tröstlich auf ihn wirkte. Tröstlich, weil er dort mit Freunden glücklich gewesen war, wenn auch nur für sehr kurze Zeit, deprimierend, weil die Rückkehr das Ende seiner unglaublichen Abenteuer bedeutete.
»Jack London«, sagte er zu dem Mann hinter dem Tresen.
»London«, erwiderte der Mann. »So? Den Namen vergisst man nicht leicht. Tut mir leid, Kumpel, aber der Junge, den du suchst, ist tot.«
Jack blinzelte mehrmals und versuchte, keine Miene zu verziehen. Erst dachte er, er müsste weinen, einen Augenblick später lachte er. Dem Mann fiel die Kinnlade runter und seine Augen weiteten sich, als er begriff, wer vor ihm stand.
Er erhielt eines der letzten freien Zimmer im Hotel, eine winzige Kammer voller Ungeziefer, aber zumindest hatte es ein Bett und ein Waschbecken aufzuweisen. Der Hotelier brachte ihm etwas zu essen und ließ ihn anschreiben.
»Ich bleibe nur ein paar Tage«, sagte Jack. »Ich bin auf dem Heimweg.«
»Na, dann viel Glück«, wünschte der Mann und klang, als meinte er es auch. »Mehr als genug Leute schaffen es bis hierhin und nicht weiter.«
»Sind viele zurückgekehrt?«
»Ein paar.«
»Und Gold?«
Der Mann zuckte die Achseln. »Ein wenig.«
»Es ist Bauernfängerei«, meinte Jack. Der Mann nickte zustimmend und wandte sich ab, um das Zimmer zu verlassen. »Halt, Moment!«, fiel Jack plötzlich ein. »Haben Sie meine Ausrüstung noch?«
»Äh …«, der Mann blieb mit gesenktem Blick in der Tür stehen, sein Mund bewegte sich, aber es kam kein Laut heraus.
»Nein, haben Sie nicht«, stellte Jack fest. »Sie haben sie verkauft.«
»Ich dachte, Sie sind tot.«
»Und wie kommen Sie darauf?«, fragte Jack schroff. »Ein Mann geht auf Goldsuche, und Sie klauen ihm alles, was er besitzt?«
»Nachdem Sie weg waren, wurde in der Stadt gemunkelt, dass Sie verschleppt wurden, Sie und ihre Kameraden. Und nachdem soviel Zeit vergangen war, dachte ich halt …«
Jack war wütend, aber zugleich fühlte er sich plötzlich auch sehr müde. Er wedelte abwehrend mit der Hand, schloss die Augen und sagte: »Sie können es mir morgen zurückzahlen.«
»Ich gebe Ihnen soviel, wie ich kann. Und lassen Sie mich noch eines sagen, ich freue mich, dass Sie überlebt haben. Schön, dass Sie nicht der Einzige sind, der diesen blutrünstigen Bastarden entkommen ist.«
»Wieso nicht der Einzige?«, staunte Jack mit weit aufgerissenen Augen.
»Ihr großer Freund, Sloper. Sitzt den ganzen Tag in der Dawson Bar und lässt sich volllaufen.«
»Merritt?«, fragte Jack verdutzt und bemerkte es nicht einmal, als der Mann die Tür hinter sich zumachte und nach unten stiefelte. Merritt lebt! Einige Augenblicke lang war er wie vom Donner gerührt, dann erhob er sich und stand schwankend mitten im Zimmer. Er versuchte, sich an den Angriff des Wendigos zu erinnern, an das Gemetzel, das Geschrei und das Blut. Obwohl er mit dem Gesicht nach unten gelegen hatte, mit dem Wolf auf dem Rücken, der ihn davon abhielt, Merritt zu helfen, hatte er sich eingeredet, dass er gesehen hatte, wie Merritt starb. Er konnte sich nicht an den genauen Moment erinnern, aber er schrieb das einer Gedächtnislücke zu, mit der sein Hirn ihn vor dem Schlimmsten bewahren wollte.
»Merritt Sloper«, sagte er, und es fühlte sich gut an, denNamen laut auszusprechen. Jack grinste. Dann ging er ans Waschbecken, schwappte sich etwas kaltes Wasser aus dem Krug ins Gesicht und wusch sich.
Über dem Waschbecken hing ein Spiegel, in dem sich Jack sehen konnte.
Ein Fremder starrte zurück. Dieser Fremde hatte dieselben wilden Haare, dieselben lachenden Augen, dasselbe schiefe Grinsen – ein Grinsen, dass ihm immer noch vom Gedanken an Merritts Überleben geblieben war –, doch den Menschen im Spiegel hatte Jack noch nie gesehen. Das hier war ein viel älterer Mann als der, den er zuletzt im Spiegel gesehen hatte. Seine Haut war wettergegerbt,
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