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Die Wildnis

Die Wildnis

Titel: Die Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Golden , Tim Lebbon
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die eine Gesichtshälfte völlig aufgeschürft. Die lächelnden Augen waren zugleich auf der Hut, als ob sie ständig erwarteten, etwas Schreckliches hinter dem Lächeln zu sehen.
    »Ich bin Jack London«, sagte Jack, und sein Spiegelbild sagte das Gleiche.
    Er wandte sich ab von dieser Version von ihm, warf sich den Mantel über und ging nach unten.
    Er überquerte die Straße und blieb vor der Dawson Bar stehen. Das letzte Mal war er mit Merritt hier gewesen, an dem Abend, an dem Archie und William sie in ihrem Zimmer überfallen und niedergeknüppelt hatten. Damals hatte die Bar nach Verzweiflung gerochen, eine Wegstation zwischen Zielorten, wo manche Menschen ihr Leben im ewigen Schwebezustand verbrachten. Er hatte auf diese Menschen herabgesehen und Merritt geschworen, dass er niemals so enden würde. Nun verspürte er eine gewisse Genugtuung, dass er losgezogen war und all diese Abenteuer erlebt hatte, auch wenn er sie sich niemals so ausgesucht hätte.
    Was ihn jetzt zögern ließ, waren die Worte des Hoteliers. Sitzt den ganzen Tag in der Dawson Bar und lässt sich volllaufen . Merritt war ein stattlicher Kerl mit einem großen Herzen, und Jack hatte keine Lust, ihn am Boden zu sehen.
    Schlimmstenfalls würde Jack ihn da eben rausholen müssen.
    Er stürmte durch die Tür in die Bar, blickt sich um und entdeckte Merritt sofort, zusammengekauert am selben Tisch in der hinteren Ecke, an dem sie vor Monaten gesessen hatten. Eine halbleere Whiskyflasche stand vor ihm. Seine verwitterten Züge wirkten durch den vielen Alkohol ganz verschwommen. Jack erkannte sofort alle Merkmale des Alkoholikers, doch Merritt schien noch mit viel mehr geschlagen zu sein – er war ein Mann, der zur Flasche getrieben wurde und es nicht aus Spaß machte.
    Ihm gegenüber saß der Junge, Hal, den Jack vor Archie und William gerettet hatte. Er schaute hoch, als Jack in der Tür stand, riss die Augen auf und flüsterte: »Jack London«.
    »Tot«, sagte Merritt. »Das Ungeheuer hat ihn erwischt.« Etliche von Merritts Nachbarn stöhnten auf, ein paar lachten sogar und machten sich über ihn lustig. »Lacht nur!«, meinte Merritt mit erhobener Stimme. »Wenn er dich bei den Eingeweiden packt, damit er deine Glieder abnagen kann, wird euch das Lachen noch … noch …« Er sackte wieder über den Tisch zusammen und stammelte irgendwas in die Sabberpfütze, die sich vor ihm auf dem Tisch gebildet hatte.
    »Nein, Merritt«, sagte Hal, stand vom Tisch auf und lächelte. »Jack ist hier!«
    Merritt schaute hoch zu Jack. Auch etliche andere Leute waren aufmerksam geworden, doch Jack hatte nur Augen für Merritt, seinen heruntergekommenen Freund. Er lächelte.
    »Jack London ist tot«, meinte Merritt.
    »Ich bin hier, Merritt«, sagte Jack. »Und es kommt mir ganz so vor, als wärst du hier der Scheintote.«
    Jack setzte sich zu ihnen an den Tisch und nahm den Drink an, den Hal ihm anbot. Der Junge starrte ihn wie gebannt an und brachte außer einem ehrfürchtigen Geflüster kaum ein Wort heraus. Jack saß eine Weile still da und ließ sich von dem betrunkenen Merritt begutachten. Der kräftige Mann hatte sich sehr verändert, aber das galt ja auch für ihn selbst, fiel ihm ein. Der unheimliche Fremde im Spiegel verfolgte ihn immer noch.
    Schließlich glitt Merritt in einen unruhigen Schlaf, der Geräuschpegel in der Bar beruhigte sich wieder, und Hal starrte Jack blinzelnd an.
    Jack musste sich erst klarmachen, dass Hal nur wenige Jahre jünger war als er. Er sah noch aus wie ein Kind – er war noch ein Kind –, aber Jack freute sich, ein freundliches Gesicht zu sehen, auch wenn er wütend war, dass Hal nicht nach Skagway zurückgegangen war und Alaska verlassen hatte.
    »Also, was ist los?«, fragte er schließlich. Er sprach zwar zu Hal, aber schaute zu Merritt in der Hoffnung, dass sein Freund aufwachen und ihn erkennen würde, aber der war zu weit weg. Morgen vielleicht.
    »Na ja … Merritt erzählt die wildesten Geschichten«, erklärte Hal. »Er redet immer von …«
    »Von Ungeheuern?«, wollte Jack wissen.
    Hal nickte.
    »Tja, wenn man zu tief ins Schnapsglas blickt, sieht man allerlei übles Zeug.«
    »Aber er hat gleich nach seiner Rückkehr davon geredet, nicht erst, seitdem er trinkt.«
    »Das ist der Wildniswahnsinn.« Jack nahm einen Schluck, schloss die Augen und genoss den beißenden Geschmack.
    »Dann ist er aber nicht der einzige Wahnsinnige da draußen«, meinte Hal.
    Jack sah den Jungen an. Hielt sein Glas hoch und atmete

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