Die Wildnis
brutales Treiben hinab, und die Jungs und Männer um ihn herum waren ein schweigsamer, brutaler Haufen. Jack hielt sich von ihnen fern, beobachtete aber jeden Einzelnen von ihnen und konnte sie in seinem Traum alle wiederfinden: Jeff, der Wortkarge, der sich als erstaunlich belesen erweisen sollte, Peters, der Europäer, der nur Englisch sprach, wenn es ihm passte, und der, der sich Gespenst nannte.
Man jagte ihn und schrie hinter ihm her. Seine Schaluppe war voll geklauter Austern, und er wusste ganz genau, dass er die Seiten wechseln und selber Austernpiraten jagen würde, wenn sie ihn schließlich erwischten. Vielleicht war dieser Verrat in Wahrheit das düsterste Kapitel seiner Biographie, während diese Erinnerung die ehrlichere, strahlendere Seite war: wie er über die Wellen segelte, den Fischereibeamten auswich und zwischen Nebelbänken und Küstengewässern, die nur er kannte, seinem Gewerbe als Dieb nachging.
Er träumte auch andere Träume – von anderen Orten, und bei jeder Erinnerung ging es ihm besser. Er durchlebte noch mal sein hartes, aber voll gelebtes Leben, ergötzte sich an seinenErlebnissen außerhalb des wilden Yukon. Es kam ihm vor, als bereitete sich sein Körper so darauf vor, in diese andere Welt zurückzukehren.
Er träumte weiter und sah noch mehr von sich: wie er dem Jungen in Dawson zu Hilfe gekommen war. Wie er entsetzt mit angesehen hatte, als der Wendigo hier, an genau dieser Stelle, wo er schlief, seine Freunde und Feinde gleichermaßen zerfetzt hatte.
Und dann Lesya.
Bevor der Traum fertig war, wachte Jack mit einem Schrei auf. Er wollte den Traum nicht zu Ende träumen, falls danach nichts mehr kam. Sein bisheriges Leben war außergewöhnlich gewesen, aber es gab noch so viel zu erleben, so viel zu sehen. Er konnte nicht hier liegen bleiben und zusehen, wie sich die Höhepunkte seines Lebens vor seinem geistigen Auge abspulten, bis alles gelaufen war. Es gab noch kein Ende für ihn, noch nicht, und er würde gegen die Finsternis ankämpfen, solange er konnte.
Er setzte sich auf und betrachtete die vom Mond beschienene Landschaft. Er schauderte vor dem Gefühl des nahenden Todes, fühlte sich aber zugleich lebendiger denn je. Das letzte Mal, als er sich so neu belebt gefühlt hatte, war oben auf dem Chilkoot-Pass gewesen, als Merritt und Jim das erste Mal mit ihm Kaffee getrunken hatten, die ganze goldene Zukunft zu ihren Füßen.
Jack legte Feuerholz nach, stand auf und heulte den Mond an. Er benutzte weder Lesyas Lehren noch ihren Zauber, um seine innere Wolfsstimme zu finden, stattdessen ließ er sie ganz aus eigenem Antrieb aufsteigen. Es war ein Ausstoß reiner Freude und Freiheit, und als die Antwort irgendwo ausder Ferne kam, hielt Jack inne und sank langsam auf die Knie. Da bist du ja , dachte er, denn er kannte diese Stimme. Sein Schutzgeist war zwar verletzt, doch er würde immer da draußen in der Wildnis auf ihn warten, solange Jack noch atmete. Und er brauchte keine Zauberkräfte, um ihn zu finden, nur sein eigenes Herz.
Denn in der Wildnis hatte er sein wahres Wesen gefunden.
Am nächsten Morgen ging Jack auf die Jagd und fing ein kleines Kaninchen. Er brauchte es nicht zu schießen oder eine Falle zu stellen. Er setzte sich einfach eine Weile auf einen umgestürzten Baum, stieß kurze Kaninchenlaute aus und versetzte sich geistig in die kleinen Wesen im Gras. Eines von ihnen tauchte aus dem Busch auf und sprang auf den Baumstamm, starrte ihn an, schnüffelte und versuchte, seinen Geruch zu identifizieren. Ehe es die Täuschung riechen konnte, streckte Jack die Hand aus, packte das Tier und brach ihm das Genick, bevor es wusste, wie ihm geschah. Jack empfand einen Augenblick lang eine merkwürdige Orientierungslosigkeit, während er die Kaninchensinne abschüttelte. Als wäre das tote Tier auf seinem Schoß einer der Seinen, und eine tiefe Trauer ergriff ihn. Dann kehrte er ins Lager zurück, häutete das Kaninchen fachgerecht, brach es auf und spießte es über dem Feuer auf.
Während das Kaninchen briet, räumte Jack das Lager auf. Im Gras lagen noch Gepäck und Ausrüstung der toten Männer, und die Spuren des Massakers waren überall am Boden verstreut. Er wollte so weit wie möglich den vorherigen Zustand wiederherstellen, einerseits im Andenken an die Männer, die hier ihr Leben gelassen hatten, andererseits als Zeichen, dass der Wendigo nicht mehr existierte. Der Wendigo gehörte nununtrennbar zur Geschichte dieses Ortes, doch der Ort seines letzten
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