Die Wildnis
grausigen Festmahls musste auch darüber hinwegkommen.
Jack legte den Sattel, in den er seinen erbitterten Nachruf eingeritzt hatte, zuoberst auf den Haufen mit Überresten. Er schien ihm ein passendes Mahnmal zu sein, auch wenn er in diesem unwirtlichen Klima kaum mehr als ein oder zwei Jahre überdauern würde. Doch die Worte waren Jack für immer ins Gedächtnis geritzt.
Das Verzehren des Kaninchens schien die Erinnerung an das Fleisch des Wendigo aus seinem Gedächtnis zu tilgen. Seine Hände waren schmierig vor Bratfett, das Fleisch füllte seinen Magen. Bis er seine Sachen zusammensammelte und nach Dawson aufbrach, war sein Hunger gestillt. Er ging südostwärts, überzeugt, in dieser Richtung die Spuren der Zivilisation zu finden. Über den Schultern trug er die Satteltaschen voll Gold.
Der Schneesturm des Vortages war vorbei. Am Boden lag zwar noch Schnee, doch die Sonne ließ ihn rasch schmelzen. Der Herbst war gekommen, aber das strengste Wetter war noch mehrere Wochen entfernt. Zum ersten Mal seit langem fühlte Jack sich in Sicherheit. Er sah seine Zukunft vor sich: die Rückkehr nach Dawson, dann über den Chilkoot-Pass nach Dyea und per Schiff nach San Francisco. Dort würde er versuchen, Jims und Merritts Familien ausfindig zu machen, das Gold über seiner linken Schulter war für sie bestimmt. Das Gold auf seiner rechten … für seine eigene Familie. Es war genug, um Shepards Auslagen für die Reise zu erstatten und, wenn damit nicht alle Schulden seiner Mutter abzubezahlen waren, dann konnten die Gläubiger zumindest eine ganzeWeile besänftigt werden. Es war mehr als genug. Außerdem hatte Jack seine eigenen Ideen, wie er von seinen Abenteuern profitieren könnte.
Er wusste, er könnte niemals seine eigenen schrecklichen Erlebnisse erzählen. Aber es gab jede Menge andere Dinge, die er erzählen konnte. Geschichten, die er aufgeschnappt hatte. Lektionen, die er gelernt hatte. Einblicke in das Herz der Wildnis, aber nicht in ihre Schattenseiten.
Gegen Mittag begegnete ihm eine Gruppe von Männern und Frauen, die nach Norden wollten. Als er sie von ferne sah, machte er ein kleines Feuer, in der Hoffnung, dass sie ihren Kaffee mit ihm teilen würden. Dann setzte er sich auf einen Stein und wartete. Er hatte seine Waffen griffbereit, machte sich aber immer weniger Sorgen, je näher sie kamen. Es waren Goldsucher – um ihre Hälse baumelten die Schürfpfannen –, und ihre freundlich lächelnden Gesichter beruhigten ihn.
»Guten Tag, Freund«, rief einer. Jack spürte plötzlich ein Brennen in der Kehle. Seit dem Angriff des Wendigos hatte er mit keinem Menschen mehr gesprochen, das war … wie lange her? Es fiel ihm schwer, die Zeit zu schätzen, die vergangen war. Monate jedenfalls.
»Guten Tag«, antwortete Jack. »Seltsame Jahreszeit, um von Dawson aufzubrechen.«
»Wir wissen schon, was wir tun«, sagte eine der Frauen. Sie ließ ihr Gepäck neben Jack fallen, und er sah, dass sie Waffen am Gürtel trug, Messer und zwei Pistolen.
»Dem Winter hier draußen ist es egal, ob ihr das wisst oder nicht«, mahnte Jack. Die Frau funkelte ihn an, wandte dann aber ihren Blick ab. Was sieht sie wohl in mir?, fragte sich Jack. Was starrt sie mich so an?
»Wird nur ein kurzer Ausflug«, sagte ein anderer. »Wir sind schon viermal aus Dawson aufgebrochen, ohne was zu finden. Wir wollen es noch einmal versuchen, bevor wir uns auf den Heimweg machen.«
»Dann viel Glück«, wünschte Jack ihnen.
»Hast du Glück gehabt?«, wollte die Frau wissen. Sie blickte auf seine Satteltaschen, dann wieder in sein Gesicht. Er lächelte, und sie schaute wieder weg. Er wusste, es sollte ihm nicht soviel Spaß machen, sie derart in der Hand zu haben, aber er konnte nicht anders.
»Schon«, meinte er. Er blickte von der Gruppe weg den Weg hinauf, den er gekommen war. Einen Moment lang überlegte er, was Glück war und was es bedeutete.
»Kannst du uns dann die richtige Richtung zeigen?«, fragte der erste Mann.
»Nein«, meinte Jack. »Da lang gab es weit mehr Unglück als Glück.«
Die sechs Goldsucher schwiegen einen Augenblick, warfen ihre Rucksäcke ab und ließen sich zu Boden sinken. Zwei von ihnen kümmerten sich weiter ums Feuer und setzten Kaffee auf. Jack reichte ihnen seine Blechtasse, und einer von ihnen stellte sie zu ihren Tassen auf den Boden. Jack nickte dankbar.
»Du siehst aus, als wärst du schon eine Weile da draußen«, sagte die Frau. »Solche wie dich hab ich schon öfters gesehen. Mit
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