Die Wildrose
Deutschland gehen – hochrangige Professoren, Wissenschaftler und Minister –, alles Pazifisten. Männer, die öffentlich die Militarisierung Deutschlands angeprangert haben. Wir müssen ihnen und ihren Familien helfen, aus Deutschland herauszukommen. Und zwar sofort. Bevor es zu spät ist. Wir haben bereits einige verloren. Ein Physiker, ein Professor an einer deutschen Universität, versuchte vor zwei Tagen, das Land zu verlassen. Seine Papiere wurden konfisziert. Seitdem hat man nichts mehr von ihm gehört. Letzte Woche wurden zwei Minister eingesperrt, weil sie sich gegen den Krieg geäußert haben. Wir tun unser Bestes, sie schnell herauszukriegen, aber manchmal sind wir nicht schnell genug.«
»Wer ist ›wir‹?«
»Der britische Geheimdienst. Ich bin ein Spion, Mrs Finnegan. Ein Doppelagent. Der Kaiser glaubt, ich arbeite für Deutschland. Aber das stimmt nicht. Ich arbeite für die andere Seite. Deutschland will einen Krieg anzetteln. Einen ungerechten Krieg. Und ich tue alles, was ich kann, um das zu verhindern.«
Jennie sah aus, als wäre sie unschlüssig. »Und Gladys … macht bereitwillig dabei mit?«
»Ja. Aber Sie dürfen nie mit ihr darüber reden. Sie müssen einfach den Umschlag annehmen, den sie Ihnen gibt, und ihn dann in den Keller von St. Nicholas bringen. Alle werden beschattet. Auch Gladys.«
»Aber warum ich?«, fragte Jennie. »Konnten Sie denn niemand anderen finden?«
»Weil Sie – unglücklicherweise – perfekt für diese Aufgabe sind.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Wir brauchen eine Freundin von Gladys Bigelow, die sie regelmäßig trifft. Wenn Gladys ihre Gewohnheiten plötzlich ändern würde – wenn sie plötzlich eine neue Person treffen und neue Orte aufsuchen würde –, würde das Verdacht erregen.«
»Wessen Verdacht?«
»Den meiner Kollegen. Sowohl deutscher wie britischer Spione. Doppelagenten sind überall. Es gibt britische Agenten, die genau jetzt im Moment Deutschland mit Geheimnissen füttern. Gegen Geld. Wenn die rauskriegen, was Gladys macht, sind die Leute, denen wir helfen wollen, verloren.«
»Gladys hat außer mir doch sicher noch andere Freunde.«
»Ja, natürlich, aber niemanden mit enger Bindung zu dieser Kirche. Es gibt ein Labyrinth von Tunneln unter Wapping, Mrs Finnegan. Und unter St. Nicholas. Die benutzt unser Mann beim Transport der Dokumente. Sie sehen also, Sie sind das ausschlaggebende Verbindungsglied. Natürlich dürfen Sie niemandem davon erzählen. Weder Ihrem Mann noch Ihrem Vater. Keinem. Je mehr Leute davon wissen, desto gefährlicher wird es für alle Beteiligten.«
»Ich kann das nicht tun, Mr von Brandt. Ich kann vor meinem Mann keine Geheimnisse haben«, antwortete Jennie entschieden und schüttelte den Kopf.
Max hatte eigentlich gedacht, er hätte sie schon. Doch leider war es nicht so. Aber egal, er würde sie schon kriegen. Obwohl er gehofft hatte, nicht zu diesem Mittel greifen zu müssen.
»Ich verstehe Ihre Zurückhaltung, Mrs Finnegan«, begann er und täuschte seine Ernsthaftigkeit nicht mehr vor. Seine Stimme klang jetzt ruhig und todernst. »Dann diskutieren wir mit Ihrem Ehemann darüber. Vielleicht würde er sich uns gern anschließen – uns allen –, Ihnen, mir und Miss Meadows in dem hübschen Cottage in Binsey. Letzte Woche bin ich mit dem Zug dort hingefahren. Was für ein hübsches kleines Dorf. Ich habe im King’s Head gewohnt.«
Jennie riss die Augen auf. Ihre Hand fuhr zum Mund. »Nein«, sagte sie. »Hören Sie auf. Bitte, hören Sie auf.«
Aber Max hörte nicht auf. »Wenn wir uns allerdings dazu entschließen würden, müssten wir wahrscheinlich noch einiges mehr erklären. Etwa Miss Meadows Anwesenheit in Ihrem Cottage. Oder den Inhalt Ihrer Patientenakte, die ich vor ein paar Wochen in Harriet Hatchers Büro gelesen habe, als sie kurz den Raum verließ. Und wir müssten vielleicht auch erklären, was Sie da unter Ihren Röcken tragen. Ich glaube nicht, dass es ein Baby ist, Mrs Finnegan. Jedenfalls nicht mehr. Zumindest hat das Mrs Cobb zu Mrs Kerrigan, der Frau des Gastwirts, gesagt, als Mrs Kerrigan letzte Woche ihre Wäsche wusch. Die beiden dachten sicher, dass keiner zuhört, aber mein Fenster ging in den Hof hinaus. Mrs Cobb glaubt natürlich, Josie Meadows habe ihr Kind verloren. Was eine ungemein schlaue Idee war, wie ich zugeben muss. Sagen Sie mir, war es Ihre? Oder Josies?«
»Mein Gott«, stieß Jennie hervor. »Sie sind ein Monster. Ein echtes Monster.«
»Ihr Mann wird in
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