Die Wildrose
und Tibetanern gleichermaßen.
Aber wie sollte er sie finden? Es wimmelte vor Gerüchten. Sie sei in China und Indien gewesen, halte sich jetzt aber in Tibet auf, behaupteten einige. Nein, in Burma. Nein, in Afghanistan. Sie vermesse Land für die Briten. Spioniere für die Franzosen. Sie sei in einer Lawine umgekommen. Lebe wie eine Eingeborene. Habe einen Nepalesen geheiratet. Handle mit Pferden. Mit Yaks. Mit Gold. Auf dem Weg durch den Nordosten Indiens hörte er weitere Gerüchte. In Agra. In Kanpur. Und schließlich hatte er sie endlich gefunden. In Kathmandu. Oder zumindest eine Hütte, die sie benutzt hatte.
»Sie ist in den Bergen«, erklärte ein Dorfbewohner. »Sie wird kommen.«
»Wann?«
»Bald. Bald.«
Tage vergingen. Dann Wochen. Ein Monat. Die Nepalesen wurden ungeduldig. Sie wollten ihn loswerden. Immer wieder fragte er die Dorfbewohner, wann sie komme, und jedes Mal antworteten sie, bald. Er hielt dies für eine List des hinterhältigen Bauern, bei dem er wohnte, um noch ein paar Münzen mehr aus ihm herauszuschlagen.
Und dann kam sie. Zuerst hatte er sie für eine Nepalesin gehalten. Sie trug indigoblaue Hosen und eine lange Schaffelljacke. Ihre grünen Augen wirkten groß in dem eckigen Gesicht. Das Haar trug sie zu Zöpfen geflochten, die mit Silber und Glasperlen geschmückt waren – wie die einheimischen Frauen. Ihr Gesicht war von der Himalaja-Sonne gebräunt. Ihr Körper drahtig und stark. Sie humpelte beim Gehen. Später fand er heraus, dass sie eine Prothese aus Yakknochen trug, die ihr ein Dorfbewohner geschnitzt hatte.
»Namaste« , sagte sie zu ihm und neigte leicht den Kopf, nachdem der Bauer ihr erklärt hatte, was er wollte.
Namaste . Das war eine nepalesische Begrüßung, die bedeutete: Das Licht in mir verbeugt sich vor dem Licht in dir.
Er erklärte ihr, dass er sie anheuern wolle, um ihn nach Tibet zu führen. Sie erwiderte, dass sie gerade aus Shigatse zurückkomme und müde sei. Sie wolle zuerst schlafen, dann essen, und dann würden sie die Sache besprechen.
Am nächsten Tag bereitete sie ein Lammcurry für ihn zu, dazu gab es starken schwarzen Tee. Gemeinsam saßen sie auf dem teppichbedeckten Boden ihrer Hütte, unterhielten sich und teilten eine Opiumpfeife. Das vertreibe die Schmerzen, sagte sie. Damals dachte er, sie beziehe sich auf ihr verletztes Bein, aber später stellte er fest, dass der Schmerz, von dem sie sprach, viel tiefer ging und dass das Opium, das sie rauchte, wenig dazu beitrug, ihn zu lindern. Die Traurigkeit hüllte sie wie ein schwarzer Mantel ein.
Er war verblüfft von ihrem umfassenden Wissen über den Himalaja. Sie hatte einen größeren Teil der Gebirgskette vermessen, kartografiert und fotografiert als jeder westliche Ausländer vor ihr. Sie verdiente ihren Lebensunterhalt mit Führungen und mit Arbeiten über die Topografie der Berge, die sie bei der Royal Geographical Society veröffentlichte. Sie würde bald auch ein Buch mit ihren Fotografien herausbringen. Max hatte einige davon gesehen. Sie waren erstaunlich gut. Sie fingen die wilde Pracht der Berge, ihre Schönheit und kalte Gleichgültigkeit ein, wie es bis dahin noch niemandem gelungen war. Persönlich tauchte sie nie im Sitz dieser Gesellschaft auf, weil sie ihre geliebten Berge nicht verlassen wollte. Stattdessen schickte sie ihre Arbeit zur Veröffentlichung an Sir Clements Markham, den Präsidenten der Royal Geographical Society.
Max war beim Anblick ihrer Fotografien und der Genauigkeit ihrer Karten in Begeisterungsrufe ausgebrochen. Sie war jünger als er – erst neunundzwanzig – und hatte dennoch schon so viel erreicht. Achselzuckend war sie über sein Lob hinweggegangen und meinte, es gebe noch so viel mehr zu tun, was sie aber nicht leisten könne – weil sie wegen ihres Beins nicht hoch genug hinaufkomme.
»Aber allein um das zu leisten, hast du doch klettern müssen«, wandte er ein.
»Nicht sonderlich hoch hinauf. Und nicht über schwieriges Gelände. Nicht über Eishänge oder Klippen oder Gletscherspalten.«
»Aber wie kannst du überhaupt klettern? Ohne … ohne zwei Beine, meine ich.«
»Ich klettere mit dem Herzen«, antwortete sie. »Kannst du das auch?«
Nachdem er bewiesen hatte, dass er tatsächlich mit Liebe, Ehrfurcht und Respekt vor den Bergen klettern konnte, willigte sie ein, ihn nach Lhasa zu führen. Mit zwei Yaks als Packtieren für Zelt und Proviant zogen sie durch Bergdörfer, Täler und über Pfade, die nur sie und eine Handvoll Sherpas
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