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Die Wildrose

Die Wildrose

Titel: Die Wildrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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ihre Armeen über Weltkarten schoben. Während das Mädchen zitternd seinen abgenutzten Schal um die mageren Schultern zog, gossen sie sich Portwein in Kristallgläser und zündeten sich Zigarren an.
    Diese Männer dachten an Invasionen und Gebietseroberungen. Sie dachten an Siege und glänzende Orden, aber keinen Moment lang an den Kampf, den dieses Kind tagtäglich ums bloße Überleben ausfocht. Und sie dachten nicht daran, was aus diesem Kind oder anderen armen Kindern in England und Europa würde, wenn ihre Väter getötet, ihre Häuser zerstört, ihre Felder geplündert und ihre Tiere von fremden Truppen geraubt würden.
    Für dieses Kind habe ich gekämpft, dachte Joe, und bin gescheitert.
    Er hätte ihm gerne gesagt, dass er sich darum bemüht hatte. Aber es würde ihn für verrückt halten, wenn er es täte. Also fuhr er zu ihm hinüber und sagte, dass er alle seine Blumen kaufen wollte.
    »Was? Alle?«, fragte es verblüfft.
    »Ja«, antwortete Joe, und zu Tom gewandt, der inzwischen neben ihm aufgetaucht war, sagte er: »Tom, könnten Sie die bitte in die Kutsche legen?«
    »Sofort, Sir«, antwortete Tom und nahm den schweren Korb des Mädchens.
    Joe gab dem Kind mehr, als die Blumen kosteten. »Davon behältst du etwas für dich.«
    »Danke, Sir. Oh, vielen Dank!«
    »Gern geschehen«, antwortete Joe.
    Tom gab dem Kind den leeren Korb zurück, und Joe sah ihm nach, wie es mit dem Geld in der Hand davoneilte.
    »Das war sehr großherzig von Ihnen, Sir. Dem Kind zu helfen«, sagte Tom.
    »Es hat ihm nicht geholfen«, erwiderte Joe. »In einem Jahr ist es wahrscheinlich noch schlechter dran als jetzt. Wenn sein Vater und seine Brüder an der Front sind. Männer verdienen viel mehr als Frauen. Es, seine Mutter und seine Schwestern werden sich mit kargen Fabriklöhnen und dem, was die Blumen abwerfen, durchbringen müssen. Die arme Kleine sollte in die Schule gehen und lesen und schreiben lernen, statt sich draußen auf der Straße rumzutreiben.«
    »Sie können nicht alle Probleme lösen, Sir. Nicht einmal Sie können das. Zumindest nicht heute Nacht.«
    Joe beobachtete das kleine Mädchen, wie es um eine Ecke bog und in der Dunkelheit verschwand. »Ach, Tom«, sagte Joe und schüttelte den Kopf. »Warum hab ich ›gern geschehen‹ zu ihr gesagt? Warum nicht, dass es mir leidtut.«

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    M ax liebte Kirchen.
    Kirchen waren ruhig und friedlich. Manchmal gab es wunderbare Kunst zu bestaunen und herrliche Chöre zu hören. Am besten aber gefiel ihm, dass Kirchen voller guter Menschen waren, und gute Menschen ließen sich leicht benutzen.
    Er öffnete die Tür von St. Nicholas in Wapping, nahm den Hut ab und trat ein. Leise ging er durch den Vorraum ins Kirchenschiff. Die Kirche war leer, bis auf eine Person – eine junge blonde Frau. Gladys Bigelow hatte ihm versichert, dass diese Frau dort sein würde, weil sie jeden Mittwoch den Altar reinigte und frische Blumen brachte.
    Im Moment jedoch füllte sie keine Vasen, sondern kniete mit gesenktem Kopf in einer Bank vor der Statue der Heiligen Jungfrau und betete. Er konnte ihren Bauch sehen, der runder wirkte. Wie interessant, dachte er. Letzte Woche, als er sie beim Wäscheaufhängen hinter ihrem Cottage in Binsey beobachtet hatte, war er noch flacher gewesen.
    Max hatte beschlossen, sich in dem Dorf umzusehen, in dem sich Jennie gemäß Harriets Notizen aufhielt. Dort durfte er sich zwar die meiste Zeit nicht blicken lassen und verbarg sich tagsüber in dem Wäldchen hinter dem Cottage, dennoch war es ein sehr lohnender Ausflug gewesen.
    Während er jetzt geduldig wartete, bis Jennie ihre Gebete beendet hatte, hörte er, wie sie aufschluchzte. Dann noch einmal. Sie weinte. Max war sich sicher, weshalb. Er war sich auch sicher, dass ihre Tränen sein gegenwärtiges Vorhaben erleichtern würden.
    Mein Gott, dachte er, welches Unheil Liebe anrichtet. Welchen Schaden sie bewirkt. Bei Gladys Bigelow. Maud. Jennie. Seamie. Willa. Und bei ihm.
    Selbst er war gegen die Zerstörungen durch die Liebe nicht gefeit, sosehr er sich auch bemühte. Er hatte mit Willa zu Abend gegessen. Sie war nett und freundlich gewesen, aber mehr auch nicht. Weil sie einen anderen liebte. Und er? Er hatte zwei Stunden neben ihr gesessen und wurde von seinen Gefühlen gepeinigt – die sie nicht erwiderte. Hinterher hatte er sich geschworen – wieder einmal –, sich nie mehr so von seinen Emotionen beherrschen zu lassen.
    Er ging zu Jennie hinüber. »Mrs Finnegan?«, fragte er

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