Die Wildrose
Schuldgefühlen gepeinigt. Auch sie berührte ihn nicht, aus Angst, abgewiesen zu werden.
Es verging eine Woche, ein Monat, und Willa stellte fest, dass sie nicht wusste, was sie tun sollte. Ob sie bleiben oder gehen sollte. Sie hätte gern gewusst, wie Seamie empfand, wagte aber nicht, ihn zu fragen. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie Angst. Doch es war ihr lieber, nichts zu wissen und zu hoffen, als sicher zu sein, dass er nicht die gleichen Gefühle für sie hegte wie sie für ihn. Die Gewissheit zu haben, dass er sie nicht mehr liebte.
Und dann eines Nachts wischte er plötzlich all ihre Zweifel vom Tisch.
»Ich will das nicht«, sagte er auf einmal, als sie am Feuer saßen.
Willa erschrak. Sie dachte, er meinte sie. Ihre Beziehung. Sie hatte gehofft, sie hätten noch eine Chance, aber andererseits, wie denn? Es gab zu viele Verletzungen. Zu viel Schmerz. Sie war nicht überrascht, aber am Boden zerstört.
Aber sie täuschte sich.
»Ich will nicht mehr hier in Binsey bleiben«, sagte er. »Ich ertrag es nicht mehr. Ich habe versucht, es zu mögen. Um James willen. Weil er das Land liebt. Und um deinetwillen natürlich, weil du London nicht magst. Aber ich hasse es hier. Ich hasse dieses Cottage. Es wohnen zu viele Gespenster der Vergangenheit hier. Aber ich will auch nicht mehr in England bleiben. Sondern dahin zurückgehen, wo alles begonnen hat schiefzugehen, und es wieder geradebiegen. Ich möchte neu anfangen. Mit dir und James. In Afrika.«
Willa war sprachlos.
»Du hältst das wohl für eine schlechte Idee?«, fragte Seamie enttäuscht.
»Nein, tue ich nicht. Im Gegenteil, ich finde, es ist eine ganz großartige Idee. Wann könnten wir denn weg?«
»Sobald du mich geheiratet hast.«
»Seamie, ich …«
»Sag Ja, Willa. Sag Ja oder geh nach Paris zurück«, unterbrach er sie schroff. »Wenn du wieder davonlaufen willst, mach’s gleich. Bevor dich James genauso sehr liebt wie ich. Ich kann den Schlag wegstecken. Er nicht. Er hat schon zu viel durchgemacht.«
»Ja«, sagte Willa.
Seamie sah sie lange und eindringlich an. Dann nahm er ihre Hand, zog sie hoch und führte sie ins Schlafzimmer. Dort liebten sie sich im Dunkeln, schliefen ein und wachten im Morgenlicht gemeinsam auf.
Seamie fuhr sie am nächsten Morgen nach Oxford, wo sie den Zug nach Paris nahm, um dort ihre Sachen zu packen und ins Haus ihrer Mutter schicken zu lassen. Anschließend ging er zu einem Juwelier und kaufte zwei Ringe. Drei Wochen später wurden sie in London in Willas Elternhaus getraut. Albie führte die Braut zum Altar. Mrs Alden richtete einen schönen Empfang für sie aus, an dem Fiona und Joe teilnahmen. Und Charlie, der seine Sprache inzwischen wiedergefunden, und Katie, die gerade ihren Abschluss in Oxford gemacht hatte und sich für die Labour-Partei um den Sitz von Southwark bewarb, und alle übrigen Kinder.
Am Tag nach ihrer Hochzeit schlenderten Seamie und Willa mit James die Gangway des Dampfers hinauf, der sie nach Ostafrika brachte. In Mombasa heuerten sie Träger an, genau wie Jahre zuvor, und begaben sich auf eine lange, geruhsame Reise, damit James Afrika kennenlernte. Und dann beschlossen sie, sich hier in Kenia, in der Nähe des Kilimandscharo, niederzulassen.
Der Schmerz in Willas Knie hatte nachgelassen. Sie hoffte, er würde mit der Zeit völlig verschwinden, wenn sich ihr Körper an das neue Bein gewöhnt hatte. Sie stand auf, schattete die Augen mit den Händen ab und lächelte ihren Mann und James an. Er war nicht ihr Sohn, noch nicht. Vielleicht eines Tages. Wenn er das wollte. Im Moment nannte er sie Willa, und damit waren sie beide zufrieden.
Sie verlagerte ihr ganzes Gewicht auf die Prothese und ging auf Seamie und James zu. Es war so gut, das neue Bein, dass sie dachte, sie könnte eines Tages vielleicht sogar wieder klettern. Nicht auf den Mawenzi-Gipfel, sondern den Uhuru. Vielleicht könnte sie das schaffen. Der Aufstieg war nicht besonders schwierig, ein Kinderspiel eigentlich. Aber das war in Ordnung.
Einmal, vor langer Zeit, wollte sie kühn sein. Wagemutig und tapfer. Die Erste sein.
Jetzt wollte sie nur noch sie selbst sein.
Sie wollte still den nächtlichen Himmel mit den funkelnden Sternen bewundern, ohne sich fragen zu müssen, welchen Weg sie einschlagen sollte. Sie wollte gemächlich durch die Steppe und den Dschungel wandern, ohne hastig ein Lager aufzuschlagen, sondern um Antilopenherden zu beobachten und dem Gesang der wundervollen Vögel zu lauschen. Sie
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