Die Wildrose
Gemüsehändlern umgeworfen. Überall lagen Äpfel, Kartoffeln und Kohlköpfe herum. Zerfetzte Fahnen hingen schlaff an Laternenpfählen. Zertrampelte Plakate lagen auf dem Boden. Anwohner, Straßenhändler und der Wirt des Pubs taten ihr Bestes, um wieder Ordnung zu schaffen und die Glasscherben und den Müll wegzukehren.
»Dad, ich mache mir Sorgen um Mum«, sagte Katie leise.
»Ich auch«, gestand Joe ein.
»Was ist hier passiert?«, fragte Seamie.
Joe hörte einen Anflug von Angst in seiner Stimme. »Ich bin mir nicht sicher«, erwiderte er, »aber ich glaube, nichts Gutes.«
Als die Kutsche weiterfuhr, sah Joe, dass der Wirt einen Kübel Wasser über die Pflastersteine vor seinem Pub schüttete. Er wusch etwas Rotes damit fort.
»War das …«, begann Seamie.
»Pst«, stieß Joe schnell hervor. Er wollte nicht, dass seine Tochter das hörte, aber es war zu spät.
»Blut«, sagte sie.
»Blut?«, fragte Seamie schockiert. »Wessen Blut?«
»Das der Demonstranten«, antwortete Joe ruhig.
»Warte mal … du willst mir sagen, dass Frauen – Frauen – auf den Straßen von London zusammengeschlagen wurden? Weil sie demonstriert haben? Weil sie um das Wahlrecht gebeten haben?« Seamie schüttelte ungläubig den Kopf und fügte dann hinzu: »Wann hat das angefangen?«
»Du warst eine ganze Weile fort und bist über Eisberge geklettert, Kumpel«, erwiderte Joe ironisch. »Und dann warst du auf deinen Vortragsreisen. Wenn du in London geblieben wärst, dann wüsstest du, dass hier niemand mehr um etwas bittet. Die Benachteiligten – seien es die Armen von Whitechapel, die nationalen Gewerkschaften oder die Frauenrechtlerinnen des Landes –, sie alle fordern jetzt Reformen. Die Dinge haben sich geändert im guten alten England.«
»Das würde ich auch sagen. Warum gibt es keine friedlichen Demonstrationen mehr?«
Joe lächelte bitter. »Die gehören der Vergangenheit an. Der Kampf ums Wahlrecht ist gewalttätig geworden. Jetzt gibt es zwei Fraktionen, die darum kämpfen. Die National Union of Women’s Suffrage Societies unter Leitung von Millicent Fawcett, der auch Fiona angehört und die verfassungskonform vorgeht, um ihre Ziele zu erreichen. Und dann gibt es die Women’s Social und Political Union unter Leitung von Emmeline Pankhurst, die die Verschleppungstaktik von Asquith satthat und militant geworden ist. Christabel, Emmelines Tochter, ist eine Aufwieglerin. Sie hat sich an Tore gekettet. Pflastersteine in Fenster geworfen. Den Premier öffentlich angegriffen. Sachen angezündet. Die Aktivitäten der Pankhursts dagegen finden großes Echo in der Presse. Unglücklicherweise bringen sie jedoch die Pankhursts – aber auch jeden, der sich in ihrer Nähe aufhält – in den Knast.«
Joe blickte Katie an, während er redete, und sah, dass sie kreidebleich geworden war. »Es ist noch nicht zu spät, Schatz. Ich kann dich immer noch zuerst nach Hause bringen.«
»Ich habe keine Angst, Dad. Und ich will nicht nach Hause«, erwiderte Katie ruhig. »Das ist auch mein Kampf. Für wen macht Mum das denn? Für dich? Für Charlie und Peter? Nein. Für mich und Rose, für uns tut sie es. Das Mindeste, was ich tun kann, ist, sie abzuholen. Und in meiner Zeitung darüber zu berichten, was ich sehe.«
Joe nickte. Tapferes Mädchen, ganz wie ihre Mutter, dachte er. Tapferkeit war ein nobler Zug, schützte aber nicht vor Pferden und Schlagstöcken. Er hatte Angst um seine Frau und machte sich Sorgen, dass sie womöglich verletzt worden war.
»Ich schätze, die alte Dame hatte recht«, sagte Seamie.
»Welche alte Dame?«, fragte Joe.
»Die in deinem Büro. Die sich über die Musikrevue beschwert hat. Als sie meinte, wo das alles noch hinführen soll. Ich hielt sie nur für eine dieser andauernden Nörglerinnen, die sich jetzt eben über nackte Ägypterinnen aufregt. Doch nun frage ich mich, ob sie vielleicht nicht doch recht hatte. England, London … das sind nicht mehr die Orte, die ich 1912 verlassen habe. Ich höre mich jetzt zwar selbst wie eine alte Dame an, aber ehrlich, Joe – Frauen zusammenschlagen? Wie weit ist es denn mit der Welt gekommen?«
Joe sah seinen Schwager an, der immer noch völlig fassungslos wirkte. Er dachte an seine Frau und ihre Freundinnen in den feuchten Zellen von Holloway. Er dachte an die Streiks und Arbeiterdemonstrationen, die in London inzwischen schon fast zum Alltag gehörten. Er dachte an die jüngsten Drohungen aus Deutschland und an Winston Churchills Anruf, der
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