Die Wildrose
befürchtete weitere Feindseligkeiten. Er meinte, sie würden in Kürze freigelassen, aber das war schon vor einer Stunde, und sie sind immer noch nicht aufgetaucht.«
Frustriert rollte Joe zu einer der Aufseherinnen hinüber, um mehr herauszufinden. Max begleitete ihn. Katie führte ihre Interviews fort und machte sich Notizen. Seamie und der Reverend versuchten, höflich Konversation zu machen. Seamie erfuhr, dass der Reverend einer Gemeinde in Wapping vorstand, dass seine Tochter Jennie bei ihm im Pfarrhaus lebte und eine kirchliche Schule für arme Kinder leitete.
»Es ist gleichzeitig auch eine Suppenküche«, erklärte der Reverend. »Wie Jennie immer sagt: ›Hungrige Kinder können nicht lernen, und Kinder, die nicht lernen, werden immer hungrig sein.‹«
Währenddessen wurde am Ende des Empfangsraums eine Tür geöffnet, und eine Gruppe wie betäubt wirkender, erschöpfter Frauen wankte herein. Seamie erkannte seine Schwester sofort, aber seine Erleichterung verwandelte sich bei ihrem Anblick sofort in Bestürzung. Fionas Gesicht war voller blauer Flecken. An ihrer Stirn befand sich eine Schnittwunde, Blut klebte in ihrem Haar, und ihre Jacke war zerrissen.
Als die Frauen in den Empfangsbereich kamen, brach Jubel unter ihren wartenden Mitdemonstrantinnen aus. Es gab Umarmungen, Tränen und Versprechen, wieder zu demonstrieren. Joe und Katie eilten auf Fiona zu. Seamie folgte ihnen durch den Trubel. Die meisten Gesichter der Frauen sagten ihm nichts, aber ein paar erkannte er.
»Gott, ich brauche eine Zigarette«, sagte eine von ihnen laut. Es war Fionas Freundin Harriet Hatcher. »Eine Zigarette und ein großes Glas Gin«, fügte sie hinzu. »Max, bist du das? Gott sei Dank! Gib mir eine Zigarette, ja?«
»Hatch, gib mir bitte auch eine.« Seamie kannte auch diese Stimme. Sie gehörte Maud Selwyn-Jones, der Schwester von India Selwyn-Jones, die mit Fionas Bruder Sid verheiratet war.
»Alles in Ordnung, Fee?«, fragte Seamie seine Schwester, als er schließlich bei ihr war. Joe und Katie standen bereits an ihrer Seite und kümmerten sich um sie.
»Seamie? Was machst du denn hier?«, fragte Fiona.
»Ich war zu Hause, als deine Nachricht eintraf, und habe Katie begleitet.«
»Tut mir leid, mein Lieber.«
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Ich bin froh, dass ich hergekommen bin. Ich hatte ja keine Ahnung, Fiona. Ich … nun, ich bin froh, dass es dir gut geht.«
Er war fassungslos, sie so zugerichtet zu sehen. Fiona hatte ihn großgezogen. Sie hatten ihre Eltern verloren, als Fiona siebzehn und er vier war, und sie war nicht nur seine Schwester, sondern auch wie eine Mutter für ihn gewesen. Sie war einer der liebevollsten, loyalsten und selbstlosesten Menschen, die er kannte, und die Vorstellung, dass jemand ihr wehgetan hatte … Er wünschte sich bloß, dieser Jemand wäre jetzt hier …
»Was ist denn bloß passiert?«, fragte Joe.
»Emmeline und Christabel, das ist passiert«, antwortete Fiona sarkastisch. »Unsere Gruppe hat friedlich demonstriert. Es waren Massen von Leuten und Polizisten versammelt, aber es gab kaum Störaktionen oder Hetztiraden. Dann tauchten die Pankhursts auf. Christabel hat einen Polizisten angespuckt. Dann hat sie einen Stein in ein Pubfenster geschmissen. Von da an lief alles aus dem Ruder. Es gab ein Riesengeschrei. Raufereien brachen aus. Die Frau des Wirts war wütend. Sie verprügelte Christabel und ging auch auf andere Demonstrantinnen los. Die Polizei begann mit Festnahmen. Diejenigen von uns, die friedlich demonstriert hatten, wehrten sich und haben teuer dafür bezahlt, wie du siehst.«
»Der Wärter sagte uns, man habe euch zu eurer eigenen Sicherheit im Keller festgehalten«, berichtete Joe. »Weil es hier im Gefängnis zwischen den beiden Fraktionen zu Reibereien gekommen sei.«
Fiona lachte bitter. »Das hat er dir gesagt?«
»Stimmt das nicht, Mum?«, fragte Katie.
»Nein, Schatz. Der Wärter hat uns im Keller eingesperrt, aber nicht zu unserer Sicherheit. Es gab keine Reibereien zwischen uns. Der Wärter wollte uns damit Angst einjagen, was ihm auch gelungen ist. Aber nicht so sehr, dass wir aufgeben werden. Das wird ihm nie gelingen.«
»Was meinst du mit ›Angst einjagen‹?«, fragte Seamie.
»Er hat uns in eine Zelle gesperrt neben der Zelle einer anderen Frauenrechtlerin, die sich im Hungerstreik befindet und zwangsernährt wird. Das machte er absichtlich. Damit wir sie hören konnten. Es war schrecklich. Wir mussten mitanhören,
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