Die Wildrose
wie das arme Ding geschrien, sich gewehrt und sich dann heftig erbrochen hat. Daraufhin haben sie die ganze Prozedur wiederholt. Immer wieder. Bis sie das Essen bei sich behielt. Sie haben auch dafür gesorgt, dass wir sie sahen. Danach. Sie wurde direkt an unserer Zelle vorbeigeführt. Sie konnte kaum gehen. Ihr Gesicht war blutverschmiert …«
Fiona hielt inne, von ihren Gefühlen überwältigt. Als sie wieder sprechen konnte, sagte sie: »Wir waren alle ziemlich mit den Nerven fertig und eingeschüchtert, jede von uns. Außer Jennie Wilcott. Sie war einfach klasse! Als die Frau an uns vorbeigeführt wurde, fing sie zu singen an. Abide with Me , und die Frau, die vorher starr zu Boden sah, blickte auf. Und lächelte. Trotz Blut und Tränen lächelte sie. Und dann fingen wir alle zu singen an. Ich glaube, das ganze Gefängnis hat uns gehört und neuen Mut gefasst. Das war allein Jennies Verdienst.«
»Fiona, was genau ist …«, setzte Seamie an, als plötzlich eine junge Frau stolperte und gegen ihn stieß. Sie war klein und blond, etwa fünfundzwanzig, schätzte er, und hatte ein furchtbar zugeschwollenes Auge
»Entschuldigen Sie! Tut mir furchtbar leid«, sagte sie verlegen. »Es ist wegen des Auges. Ich kann nicht richtig sehen.« Sie hielt sich an Reverend Wilcotts Arm fest.
»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen«, erwiderte Seamie. »Ganz und gar nicht.«
»Mr Finnegan, das ist meine Tochter Jennie Wilcott«, stellte der Reverend sie vor. »Jennie, das ist Seamus Finnegan, Fionas Bruder und ein sehr berühmter Forscher. Er hat den Südpol entdeckt.«
»Sehr erfreut, Sie kennenzulernen, Miss Wilcott«, sagte Seamie.
»Ganz meinerseits, Mr Finnegan. Wie um alles in der Welt hat es Sie vom Südpol nach Holloway verschlagen? Ihnen muss ja ein großes Unglück widerfahren sein.«
Bevor Seamie antworten konnte, zog ihn Katie am Arm. »Onkel Seamie, wir gehen jetzt. Kommst du?«
Seamie bejahte, dann drehte er sich wieder zu den Wilcotts um. »Bitte, nehmen Sie doch meinen Arm, Miss Wilcott. Wenn Sie auf beiden Seiten jemanden zur Stütze haben, ist es leichter für Sie. Bestimmt. Ich bin einmal schneeblind gewesen. Bei meiner ersten Antarktisreise. Und musste wie ein Lamm herumgeführt werden.«
Jennie nahm Seamies Arm. Gemeinsam verließen sie den Empfangsbereich und durchquerten den langen, düsteren Durchgang, der auf die Straße führte.
»Fiona hat uns gerade von Ihrer Tortur erzählt«, sagte Seamie währenddessen. »Sie müssen die Jennie sein, die Abide with Me gesungen hat?«
»Hast du das, Jennie?«, fragte der Reverend. »Du hast mir zwar von der Zwangsernährung erzählt, aber das nicht. Ich bin froh, dass du gerade das gesungen hast. Es ist ein schönes, altes Kirchenlied. Es muss der armen Frau etwas Trost gespendet haben.«
»Ich habe eigentlich mehr aus Trotz angefangen zu singen als mit der Absicht zu trösten, Dad«, erwiderte Jennie. »Ich habe für die Frau gesungen, ja. Aber auch für ihre Peiniger. Ich wollte sie wissen lassen, dass sie uns nicht brechen können, was immer sie auch tun.«
»Was ist Zwangsernährung?«, fragte Seamie. »Und warum machen die Wärterinnen das mit einer Gefangenen?«
»Lesen Sie keine Londoner Zeitungen, Mr Finnegan?«, fragte Jennie ein wenig entrüstet.
»Doch, Miss Wilcott, aber die sind in New York, Boston oder Chicago schwer zu kriegen. Vom Südpol ganz zu schweigen. Ich bin erst vor einem Monat zurückgekommen.«
»Entschuldigen Sie bitte, Mr Finnegan. Zum zweiten Mal. Es war doch ein sehr anstrengender Tag«, entgegnete Jennie.
»Noch einmal, Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, Miss Wilcott.« Er sah sie an. Ihr Auge sah schrecklich aus und tat vermutlich sehr weh.
»Es ist eine Mitstreiterin von uns, die zwangsernährt wird«, sagte Jennie langsam. »Sie wurde verhaftet, weil sie die Kutsche von Mr Asquith beschädigt hat. Sie ist jetzt seit einem Monat im Gefängnis und dabei, sich zu Tode zu hungern.«
»Aber warum macht sie das?«
»Um gegen ihre Einkerkerung zu protestieren. Und um die Aufmerksamkeit auf die Sache des Frauenwahlrechts zu lenken. Eine junge Frau, die sich im Gefängnis zu Tode hungert, gibt eine gute Story ab und erregt eine Menge Sympathie in der Öffentlichkeit – was Mr Asquith und seiner Regierung sehr unangenehm sein dürfte.«
»Aber man kann doch niemanden zwingen, etwas zu essen, wenn er nicht will.«
Jennie wandte sich zu ihm um und musterte ihn mit ihrem gesunden Auge. »Doch, das kann man.
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