Die Wildrose
Es ist eine scheußliche Prozedur, Mr Finnegan. Sind Sie sich sicher, dass Sie das so genau wissen wollen?«
Die Frage ärgerte Seamie. Hielt sie ihn für so einen Schwächling? Er war in Afrika zurechtgekommen. Und in der Antarktis. Er hatte Skorbut, Schneeblindheit und Erfrierungen überstanden. Dann würde er doch allemal auch damit fertig werden. »Ja, Miss Wilcott, ich bin mir sicher«, antwortete er etwas verstimmt.
»Gut, eine weibliche Gefangene im Hungerstreik wird erst bewegungsunfähig gemacht«, begann Jennie. »Sie wird in ein Laken gewickelt, damit sie nicht um sich schlagen kann. Natürlich will sie weder mit den Wärterinnen noch mit dem Gefängnisarzt kooperieren, also presst sie die Lippen zusammen. Deshalb schiebt man ihr ein Metallteil dazwischen, um den Mund zu öffnen und sie auf diese Weise füttern zu können. Oder man schiebt ihr einen Gummischlauch durch die Nase in die Speiseröhre. Ich muss wohl nicht sagen, dass dies sehr schmerzhaft ist. Der Arzt gießt Nahrung durch den Schlauch, gewöhnlich Milch mit Haferschleim. Wenn die Frau ruhig bleibt, kann sie während der Prozedur atmen. Wenn nicht … nun, dann gibt es Schwierigkeiten. Wenn die abgemessene Menge Milch verabreicht ist, wird der Schlauch entfernt, und man lässt von der Frau ab. Wenn sie sich erbricht, beginnt der Arzt von Neuem.«
Seamies Magen drehte sich um. »Sie hatten recht, Miss Wilcott, das ist tatsächlich eine scheußliche Sache.« Sie wusste eine Menge über diese Prozedur. Als er ahnte, warum, erschauerte er. »Sie kennen die Prozedur aus eigener Erfahrung, nicht wahr?«, fragte er. Doch sobald er die Worte ausgesprochen hatte, tat es ihm leid. Derlei fragte man eine Dame nicht, die man gerade kennengelernt hatte.
»Ja, stimmt. Zweimal«, antwortete Jennie ungerührt. Ihre Offenheit überraschte ihn.
»Vielleicht sollten wir uns einem angenehmeren Thema zuwenden, meine Liebe«, warf der Reverend sanft ein. »Seht nur! Da wären wir. Heraus aus der Löwengrube wieder im Licht. Genau wie Daniel.«
Seamie sah sich um. Es dämmerte bereits, und die Straßenlampen brannten schon.
Seine Familie wartete auf der Straße. Fiona saß mit geschlossenen Augen auf einer Bank, neben ihr Katie, die etwas auf ihren Block kritzelte. Joe suchte vermutlich nach der Kutsche. Bei ihrer Ankunft war die Straße voller Droschken gewesen, sodass sein Kutscher keinen Parkplatz vor dem Gefängnis gefunden hatte. Harriet Hatcher, die neben der Bank stand, hatte eine neue Zigarette aufgetrieben. Max und Maud waren bei ihr. Maud lachte heiser über etwas, das Max gerade gesagt hatte.
»Ich muss eine Droschke suchen, Mr Finnegan, wären Sie so freundlich, währenddessen bei Jennie zu bleiben?«, fragte Reverend Wilcott.
»Selbstverständlich«, antwortete Seamie. »Setzen wir uns auf eine Bank, Miss Wilcott.«
Als sie eine Straßenlaterne passierten, warf Seamie erneut einen Blick auf Jennies Auge und stieß einen leisen Pfiff aus. »Seh ich so schlimm aus?«, fragte Jennie.
»Ja. Schrecklich.«
»Ah, vielen Dank«, erwiderte Jennie lachend. »Vielen herzlichen Dank! Von Takt haben Sie wohl noch nie was gehört?«
Auch Seamie lachte. Denn genau in diesem Moment sah er noch etwas anderes – nämlich dass sie sehr hübsch war, selbst mit dem blauen Auge. Ein paar Sekunden lang schwiegen sie verlegen, aber Seamie wollte die Unterhaltung unter keinen Umständen abbrechen lassen, also wandte er sich schnell einem unverfänglicheren Thema zu.
»Ihr Vater hat erwähnt, dass er einer Kirche im East End vorsteht.«
»Das stimmt. In Wapping. St. Nicholas. Ist Ihnen der Heilige bekannt?«
»Nein«, antwortete Seamie, plötzlich besorgt, sie würde mit einer langatmigen und frömmelnden Beschreibung des Heiligen und all seiner wundersamen Taten aufwarten, um ihn dann zu ermahnen, seine Sonntagspflicht einzuhalten. Doch sie überraschte ihn erneut.
»Er ist der Schutzpatron der Seeleute, Diebe und Prostituierten«, sagte sie. »Was bedeutet, dass er perfekt zu uns passt, weil in Wapping alle drei Berufe mehr als gut vertreten sind. Sie sollten die High Street mal am Sonntagabend sehen.«
Seamie musste abermals lachen. »Leben Sie schon lange in Wapping?«
»Wir leben jetzt seit fünfundzwanzig Jahren dort. Nun, zumindest mein Vater. Er hat eine schlecht geführte Kirche übernommen und sie wieder zu neuem Leben erweckt. Meine Mutter gründete vor etwa zwanzig Jahren eine Schule für die Kinder in der Nachbarschaft. Die habe ich vor sechs
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