Die Wildrose
an, sie mitzunehmen und zu Hause abzusetzen. Maud lehnte ab, weil sie mit Max und Harriet zu den Hatchers fahren wollte. Seamie sagte, er wolle bei Miss Wilcott warten, bis ihr Vater zurückkomme, und sich dann selbst eine Droschke nehmen.
»Ich würde gern noch etwas über das andere Mädchen erfahren«, sagte er zu Jennie – froh über die Gelegenheit, sich allein mit ihr unterhalten zu können.
»Das andere Mädchen?«, fragte Jennie.
»Die Erfolgsgeschichte. Sie wollten mir gerade davon erzählen, als Joe mit der Kutsche auftauchte.
Jennie lächelte. »Ja, das stimmt. Gladys Bigelow ist tatsächlich eine Erfolgsgeschichte. Sie war ebenfalls eine Schülerin an unserer Schule. Ein sehr intelligentes Mädchen. Aus schrecklichen Verhältnissen – ein trunksüchtiger, gewalttätiger Vater, der inzwischen verstorben ist, und eine schwer kranke Mutter. Bei dem Hintergrund wäre ihr wohl nichts anderes übrig geblieben, als irgendeinen miserablen Job in einer Fabrik anzunehmen, aber stattdessen arbeitet sie jetzt für Sir George Burgess, den stellvertretenden Kommandeur der Admiralität unter Mr Churchill.«
Seamie beobachtete, wie sich Jennies Ausdruck veränderte, als sie über ihre frühere Schülerin sprach. Ihr Gesicht begann förmlich zu leuchten.
»Sie besuchte unsere kleine Schule, danach machte sie eine Ausbildung zur Sekretärin. Ich fragte Fiona und Joe, ob sie eine Stelle für sie hätten. Sie hatten zwar gerade keine, aber Joe wusste, dass Sir George ein tüchtiges Mädchen suchte. Und Sir George stellte sie ein.«
»Das ist eine wundervolle Geschichte, Miss Wilcott«, sagte eine Stimme hinter ihnen. Es war Max von Brandt. Seamie hatte überhaupt nicht bemerkt, dass er wieder zu ihnen getreten war.
»Ja, das stimmt, Mr von Brandt«, erwiderte Jennie und drehte sich zu ihm um. »Diese Arbeit hat ihr Leben verändert. Gladys war ein bisschen schüchtern. Etwas in sich gekehrt, verstehen Sie. Sie hatte nichts im Leben außer ihre kranke Mutter und ihre Strickgruppe am Donnerstagabend. Und jetzt hat sie dank ihrer Ausbildung einen Beruf, den sie liebt. Bei der Admiralität immerhin! Sie hat ein Ziel und ist unabhängig, was ihr viel bedeutet. Sie ist sogar Frauenrechtlerin geworden und besucht die abendlichen Versammlungen. Ist das nicht erstaunlich? All das kann Erziehung bewirken.«
»Jennie! Hier drüben, meine Liebe!«, rief Reverend Wilcott, der schließlich eine Droschke aufgetrieben hatte.
»Nehmen Sie meinen Arm«, sagte Seamie. »Ich bringe Sie über die Straße.« Jennie verabschiedete sich von Max, winkte Maud und Harriet zu, die anscheinend noch eine Zigarette am Randstein rauchten, dann führte Seamie sie zu der Droschke.
»Ich frage mich, Mr Finnegan … ob ich Sie vielleicht bitten dürfte, in unsere Schule zu kommen und zu den Kindern zu sprechen?«, fragte sie. »Vielleicht nächste Woche? Sie sind eine ziemlich beeindruckende Persönlichkeit, wissen Sie. Sie haben so viel erreicht, so viele erstaunliche Dinge getan. Ich weiß, die Kinder würden sich sehr freuen, wenn Sie kämen. Und ich ebenfalls.«
Eigentlich hatte er in der nächsten Woche einige Vorträge zu halten und ein Treffen mit Sir Clements Markham von der Royal Geographical Society geplant, der ihn wegen einer Stelle sprechen wollte. Zudem hatte er sich schon seit Längerem mit seinem Freund George Mallory zu einem ausgiebigen Besuch im Pub verabredet. Genügend Gründe also abzusagen – aber nicht einer davon zählte. Tatsächlich scheute er sich davor, sie wiederzusehen. Sie rührte etwas in ihm. Bewunderung vermutlich, sagte er sich schnell. Aber es ging tiefer, er kannte das Gefühl, und es jagte ihm Angst ein. Die anderen Frauen, mit denen er in den letzten Jahren zusammen gewesen war, hatten auch etwas in ihm berührt, oder besser gesagt, angestachelt – seine Begierde. Das war etwas anderes. Jennie Wilcott hingegen hatte in der kurzen Zeit, die er sie kannte, sein Herz berührt. Das war schon lange keiner Frau mehr gelungen.
Mach’s nicht, sagte er sich. Du hast dich gerade von Caroline getrennt. Das Letzte, was du jetzt brauchst, sind neue Verwicklungen. »Ich weiß nicht, ob mir das möglich ist, Miss Wilcott. Ich muss in meinem Terminplan nachsehen«, antwortete er schließlich.
»Ich verstehe, Mr Finnegan«, sagte sie und versuchte, ihre Enttäuschung zu verbergen. »Sie sind sicher sehr beschäftigt.« Sie versuchte zu lächeln, zuckte jedoch zusammen. »Oh, autsch!«, rief sie aus. »Mein Auge ist
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