Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Wildrose

Die Wildrose

Titel: Die Wildrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
Vom Netzwerk:
spätnachts und klebten Streichholzschachteln zusammen. In dieser Nacht verliebte er sich in India.
    »Wo bin ich?«, fragte Sid jetzt.
    »Du bist im Laderaum von meinem Boot«, antwortete John.
    »Wie bin ich hierhergekommen?« Sid erinnerte sich, dass er Teddy Ko etwas an den Kopf geworfen und Maddens Schlägern ein paar Fausthiebe versetzt hatte. An sonst nichts.
    »Maddens Männer haben dich gebracht. Sie haben dich furchtbar zusammengeschlagen.«
    Daran erinnerte er sich.
    »Als du dann bewusstlos warst, haben sie dich in den Keller der Werft gesperrt. Da warst du vier Tage. Heute Morgen, gerade als ich von einem Job zurückgekommen bin, sagten sie, ich müsste noch was erledigen – irgendeine heiße Ware in Margate aufnehmen. Sie haben dich an Bord geschleppt, in den Laderaum geworfen, und dann hat mir Madden gesagt, ich soll ins offene Wasser rausfahren, bevor ich nach Margate komm, dir Gewichte anhängen und dich reinschmeißen. Ich hab’s versprochen, werd’s aber nicht tun. Ich hab dir hier ein Lager gemacht und dir auch ein bisschen Laudanum gegeben.«
    »Warum? Warum machst du das?«, fragte Sid, der genau wusste, dass Madden John töten würde, wenn er herausfand, dass er nicht gehorcht hatte.
    »Weil du immer für mich da gewesen bist, Sid. Jetzt bin ich an der Reihe, dir einen Gefallen zu tun. Außerdem kann ich den Dreckskerl Madden nicht ausstehen. Er schindet mich zu Tode und bezahlt mir nichts. Zwingt mich, Sachen zu machen, die ich nicht machen will. Ich mein, Diebstahl ist eine Sache, aber Leute umbringen ist was ganz anderes. Ich will weg, kann’s aber nicht. Ich müsst weit fort, ich und meine Familie, aber ich hab kein Geld. Madden hat mir gedroht, mich und Maggie vor den Augen meiner Kinder umzubringen, wenn ich je auf den Gedanken käm abzuhauen.«
    »Was willst du ihm sagen?«, fragte Sid, als er begriff, welch enormes Risiko John seinetwegen einging.
    »Ich sag ihm natürlich, dass ich den Job erledigt hab«, antwortete John. »Er wird mir glauben. Warum auch nicht? Welchen Grund sollt er haben, mir nicht zu glauben? Ich fahr das Boot bis über Margate raus. Werf eine Ladung Müll vom Heck – Steinbrocken, alte Seile, kaputtes Werkzeug, alles in Segeltuch verpackt, falls einer zuschaut. Und wie ich Billy kenne, wird einer zuschauen. Dann mach ich mit meiner Arbeit weiter.«
    »Und wie soll ich heimkommen?«, fragte Sid und krümmte sich vor Schmerz beim Reden.
    »Das geht nicht gleich. Ich soll morgen, wenn es dunkel ist, nach Margate rausfahren. Aber die Ladung wird erst am folgenden Morgen aufgenommen. Wir schaffen dich sicher von Bord. Von dort aus musst du selbst zusehen, wie du heimkommst.«
    Sid nickte.
    John sah ihn skeptisch an, während Maggie ein Tuch auf seine Lippe drückte, die beim Sprechen wieder aufgeplatzt war. Sid spürte, wie ihm Blut übers Kinn lief. Er sah Johns sorgenvollen Blick.
    »Du brauchst einen Arzt«, sagte John. »Dein Zustand ist bedenklich, Sid, aber du musst durchhalten. Hörst du?«
    Sid nickte. Er sah alles nur verschwommen. Der Schmerz zog ihn nach unten. Er dachte an India. Sie war sicher außer sich vor Sorge. Er wünschte, er könnte ihr eine Nachricht zukommen lassen, aber dafür müsste er John sagen, wer und wo sie war, und das wollte er nicht – weder ihm noch sonst jemandem, der mit Madden zu tun hatte.
    »Du hältst durch, Sid …«
    Johns Stimme wurde schwächer, sie klang wie von weit her. Sid hörte wieder das Wasser, das gegen den Bootsrumpf schlug. Es wollte ihn. Wollte in seine Nase, in seinen Mund eindringen. Ihn ertränken. Aber er würde sich wehren, kämpfen. Schon einmal, vor langer Zeit, hatte er im Wasser gelegen. Genau hier, im Fluss. Er wollte ein Ding drehen, aber die Sache war schiefgegangen. Er war vom Dock ins Wasser gestürzt und auf einen Pfeiler gefallen, der ihm die Seite aufschlitzte. Fast wäre er an der Verletzung gestorben. Damals glaubte er, sterben zu müssen. Was ihn nicht sonderlich scherte. Aber India hatte ihn gerettet. Sie hatte um sein Leben gekämpft.
    Er sah sie vor sich, konzentrierte sich auf ihr schönes Gesicht, als der rasende Schmerz an seinem Körper zerrte und ihn nach unten zu ziehen drohte. Beim letzten Mal hatte er nichts, wofür es sich zu leben lohnte, niemanden, den er liebte.
    Dieses Mal schon.

   80   
    W illa lehnte sich an das warme Fell ihres Kamels, das sich endlich zu seiner dringend benötigten Rast niederlassen durfte. Sie hatte Attayeh erbarmungslos angetrieben, obwohl

Weitere Kostenlose Bücher