Die Wildrose
Wache aus dem Steinhäuschen links von dem Tor. Der Mann sah sie und brüllte sofort, sie solle stehen bleiben. Eine andere Wache schloss sich ihm an. Beide Männer hatten Gewehre im Anschlag und zielten auf sie.
»Lasst die Tore offen!«, schrie sie mit so tiefer Stimme wie möglich auf Türkisch. »Jamal Pasha kommt! Jamal Pasha kommt! Er folgt in seinem Automobil! Ein Notfall! Er muss am Morgen in Beirut sein! Macht Platz für Jamal Pasha!«
Überrascht senkten die Wachen die Gewehre, traten zur Seite und versuchten, an Willa vorbei nach dem Wagen des Gouverneurs Ausschau zu halten. Ihre Verblüffung dauerte nur ein paar Sekunden, aber mehr brauchte sie nicht. Blitzschnell war sie an ihnen vorbei und ritt so schnell wie der Wind aus Damaskus hinaus.
Sie hörte Gewehrschüsse hinter sich und hoffte inständig, die Kugeln träfen weder ihr Kamel noch sie selbst. In der Reihenfolge. Sie selbst würde mit einer Schusswunde eine Weile durchhalten, ihr Kamel jedoch nicht. Doch keiner der Schüsse traf sie, und nach ein paar Minuten ging die feste Straße in weichen Wüstensand über. Aber Willa gönnte ihrem Kamel keine Pause, sie peitschte auf das Tier ein, feuerte es an und ritt in vollem Galopp weiter, aus Angst, die Wachen schickten ihr jemanden hinterher. Aber niemand verfolgte sie. Vielleicht konnten die Wachen um diese Stunde kein Automobil oder Kamel auftreiben, vielleicht wollten sie es auch gar nicht – damit niemand erfuhr, dass sie entgegen ihren Anweisungen jemanden durch das Tor hatten entwischen lassen.
Willa blickte ein paarmal zurück und fasste neuen Mut, als die Stadt hinter ihr immer kleiner wurde. Ihr Kamel galoppierte eine Düne hinauf, auf der anderen Seite wieder hinunter, und Damaskus war verschwunden. Sie jauchzte vor Freude, als sie mit wehendem Gewand in die Wüstennacht verschwand.
79
S id roch Tee. Hörte Stimmen. Und Wasserrauschen.
Er hatte Angst. Wasser war gefährlich. Wasser bedeutete Tod. Er hatte sie reden hören – Madden und seine Schläger. Sie wollten ihn ins Wasser werfen, in den Fluss. Er würde ertrinken. Er würde India und seine Kinder nie mehr wiedersehen. Und sie würden nie erfahren, was mit ihm geschehen war.
Er versuchte, sich zu bewegen, aber jeder Versuch brachte entsetzlichen, brennenden Schmerz. Überall. Im Kopf. Den Eingeweiden. Den Knien. Am Rücken. Es fühlte sich an, als bestünde er nur aus Schmerz. Er schrie. Versuchte erneut aufzustehen, wenigstens die Augen zu öffnen, aber es gelang ihm nicht.
»Lass das, Sid. Es ist alles in Ordnung«, sagte eine der Stimmen.
Mit größter Anstrengung öffnete Sid die geschwollenen Augen. Er konnte nicht klar sehen, aber es war das Gesicht eines Mannes, das sich über ihn beugte. Und das einer Frau. Er kannte sie nicht.
»Er sieht uns, John«, sagte die Frau. »Aber ich glaube, er erkennt uns nicht. Sprich mit ihm, mein Lieber. Sag ihm, wer wir sind.«
»Sid? Sid, kannst du mich hören?«
Sid nickte.
»Nein, beweg dich nicht. Sonst fängt die Blutung wieder an. Lieg einfach still. Ich bin John. Das ist meine Frau Maggie. Ich habe früher für dich gearbeitet. Vor Jahren. Erinnerst du dich an uns?«
Sid hätte sich gern erinnert, aber der Schmerz ließ es nicht zu.
»Er erkennt uns nicht. Der arme Teufel weiß im Moment wahrscheinlich nicht mal mehr seinen eigenen Namen«, flüsterte Maggie ihrem Mann zu. »Du bist eines Abends in unsere Wohnung gekommen, Sid, mit einer Frau Doktor. Sie hat uns eine Menge Fragen gestellt. Was wir essen, was das kostet und was John verdient.«
Plötzlich erinnerte sich Sid. »Maggie Harris«, krächzte er durch seine gespaltene Lippe. »Maggie und John.«
»Ja! Ja, wir sind’s«, erwiderte John.
Sids Gedanken wanderten ins Jahr 1900 zurück. In die Zeit, bevor er London verlassen, bevor er India geheiratet hatte. Sie war bei einer Labour-Versammlung gewesen und verhaftet worden. Er hatte sie aus dem Gefängnis geholt, aber ein Reporter verfolgte sie. Sie wollte mit dem Mann nicht sprechen, also hatte Sid ihr geholfen, ihn abzuhängen. Sie versteckten sich in den Tunnels unter Whitechapel und kamen schließlich im Blind Beggar wieder heraus, wo sie etwas aßen. Danach nahm er sie mit, um die Armen von Whitechapel kennenzulernen.
Eine der Wohnungen, die sie besuchten, gehörte John und Maggie Harris, die mit sechs Kindern in zwei feuchten, elenden Kammern lebten. Maggie und ihre Kinder – bis auf das jüngste, das unter dem Tisch schlief – arbeiteten bis
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