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Die Wildrose

Die Wildrose

Titel: Die Wildrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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musste. Ein Leben aus zweiter Hand. Sie hasste es, aber es war alles, was ihr geblieben war.
    Sie hatte auch Seamie gehasst, fast so sehr, wie sie ihn liebte, und ihn und ihr nutzloses Bein verflucht. Ihm auch die Schuld gegeben. Weil es leichter war, jemand anderem die Schuld für ihr Schicksal zu geben statt sich selbst.
    Sie erinnerte sich, wie sie Nairobi verlassen und von Mombasa aus ein Schiff genommen hatte. Aus ihrer Wunde sickerte nach wie vor Blut, sie konnte auf den Krücken kaum humpeln, war aber so außer sich vor Schmerz und Leid, so übermannt von den widerstreitenden Gefühlen für Seamie, dass sie nur noch so weit wie möglich von ihm fortkommen wollte. Sie schaffte es bis nach Goa, wo sie ein kleines Haus am Strand mietete. Dort blieb sie ein halbes Jahr, wartete, dass ihr Bein heilte, und trauerte um ihr verlorenes Leben. Als sie wieder zu Kräften gekommen war, reiste sie nach Bombay, wo sie einen Arzt fand, der ihr ein künstliches Bein anpasste. Sie blieb einen Monat in der Stadt, um richtig laufen zu lernen, und verließ dann, beladen mit Kameras, ein paar Kleidungsstücken und immer noch einem Großteil des Geldes ihrer Tante, Bombay wieder. Sie konnte zwar nicht mehr klettern, aber sie konnte Forschungstouren unternehmen, und sie war entschlossen, dies zu tun. Sie verließ die zivilisierte Welt und hoffte, damit den Schmerz in ihrem Herzen hinter sich zu lassen, aber er verfolgte sie überallhin. Wo sie auch hinging, was sie auch sah, hörte oder fühlte, immer wollte sie es mit Seamie teilen – sei es die atemberaubende Weite der Wüste Gobi, das Geräusch der vielen Glöckchen, die eine Kamelkarawane ankündigten oder der Anblick der Sonne, die über dem Potala-Palast in Lhasa aufging. Sie hatte versucht, vor ihm wegzulaufen, aber das gelang ihr nicht, denn er war immer bei ihr, in ihrem Kopf und in ihrem Herzen.
    Es gab Zeiten, in denen sie sich so sehr nach ihm sehnte, dass sie spontan entschied, nach London zurückzukehren. Während sie packte, stellte sie sich vor, ihn wiederzusehen, mit ihm zu sprechen, ihn in den Armen zu halten – doch dann, genauso abrupt, hielt sie beim Packen inne und sagte sich, sie sei eine Närrin, weil Seamie sie nicht sehen und sprechen, geschweige denn in den Arm nehmen wollte. Sie hatte ihn vor acht Jahren verlassen. War weggerannt. Hatte ihm die Schuld gegeben. Sein Herz gebrochen. Welcher Mann konnte so etwas verzeihen?
    Ein heftiger Windstoß fegte über Willa hinweg, der sie erschauern ließ und alle Erinnerungen, an den Mawenzi und was sie dort verloren hatte, davontrug. Das Zittern und Weinen ließen nach, und sie schaffte es, die letzten zehn Meter nach unten zu klettern.
    Dunkelheit brach herein, als sie sich zum Gletscher zurückschleppte. Sie hatte ihr Gewehr nicht bei sich, trotzdem verspürte sie keine Angst. Das Lager war nicht weit. Sie wusste, dass sie es bis dorthin schaffen würde, bevor es völlig dunkel wäre. Ihr Bein blutete. Auch ihre Hände. Opium würde die Schmerzen dieser Wunden vertreiben und die der Wunde in ihrem Herzen auch.
    Langsam humpelte Willa durch den Schnee, während die Sonne hinter ihr versank – eine kleine, gebrochene Gestalt, verloren im Schatten des ewigen Bergs und eingehüllt in ihre zerplatzten Träume.

   5   
    S eamie war schon oft zu Gast in Edwina Hedleys Londoner Haus gewesen. Es hätte ihm vertraut sein sollen, aber jedes Mal, wenn er es betrat, sah es vollkommen anders aus. Eddie war fortwährend auf Reisen und brachte von ihren Abenteuern ständig irgendwelchen Plunder mit, mit dem sie es neu dekorierte.
    So stand im Wohnzimmer womöglich ein neuer bronzener Buddha oder eine Steinskulptur der Göttin Kali. Oder ein thailändischer Dämon, ein Drache aus Peking oder eine mit Perlen behangene Fruchtbarkeitsgöttin aus dem Sudan. An den Fenstern hingen vielleicht indische Seidentücher, afghanische Suzanis oder spanische Fransenschals. Einmal hing sogar eine riesige russische Ikone in der Diele. Im Moment plätscherte dort ein Mosaikbrunnen.
    »Es sieht aus wie in Ali Babas Höhle«, sagte er und drehte sich im Kreis.
    »Es sieht aus wie ein verdammter Souk«, murmelte Albie. »Wie kann sich ein Mensch bei all dem Gerümpel bewegen, das hier rumsteht?«
    »Guten Abend, meine Lieben«, dröhnte eine Stimme aus dem Salon.
    Ein paar Sekunden später küsste Eddie die beiden zur Begrüßung auf die Wange. Sie trug eine türkisfarbene Seidentunika über einem langen, perlenverzierten Hemd und schwere

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