Die Wildrose
seitdem hatte sie ununterbrochen gearbeitet und sich auf der Suche nach dem perfekten Bild unbarmherzig angetrieben – einem Bild, das gleichzeitig verblüffend und schön wäre und so gut, dass es den Leuten den Atem verschlug oder ehrfürchtiges Staunen auslöste. Inzwischen hatte sie mehr als zweihundert Aufnahmen beisammen – von den Bergen in allen Witterungslagen, den Dörfern, die sie umgaben, und den Menschen, die zu ihren Füßen lebten.
Und von der Route. Die hatte sie auch.
Sie hatte Bilder, die zeigten, wie man den Everest besteigen könnte.
Und die würden sie berühmt machen. Ihren Ruf als Erforscherin der hochalpinen Bergwelt festigen. Sie würde eine Menge Bücher verkaufen, die ihr das Geld einbrächten, das sie im Moment dringend benötigte. Von ihrer Tante Eddie hatte sie zwar fünftausend Pfund bekommen, aber die waren zum größten Teil verbraucht. Für die Passage nach Afrika. Und dann nach Indien. Für ihre Reisen durch den Fernen Osten. Für Bestechungsgelder an Beamte, um Grenzen passieren zu dürfen, oder für Essen, Tee und Unterkunft. Für Kameras und Filme, für Entwicklungsgeräte, Zelte und Schlafmatten und für Tiere, die sie zum Transport des Ganzen brauchte.
Markham wollte von ihr unbedingt die Route. Die wollten die Deutschen aber auch in Erfahrung bringen. Ebenso die Franzosen und Amerikaner. Bei Bergsteigern ging es in erster Linie ums Gewinnen. Für sie zählte nur, wer der Erste war. Und nichts zählte mehr, als der Erste auf dem höchsten Berg der Welt zu sein. Das wusste Willa genau. Sie war auch einmal die Erste gewesen. Die Erste, die den Mawenzi-Gipfel bestiegen hatte. Es hatte sie ein Bein und fast das Leben gekostet. Und ihr Herz.
Eine Stunde lang führte Willa das Yak über die endlose weiße Fläche des Gletschers, dann noch einmal zwei Stunden, bis sie endlich fand, was sie suchte – einen unverstellten Blick auf den nördlichen Pass. Dann hielt sie an, hämmerte eine Eisenstange in den Boden und band das Yak daran fest. Langsam und mit Bedacht lud sie das Tier ab und schlug ihr Lager auf.
Es dauerte eine Stunde, bis sie ihre Sachen ausgepackt, das Zelt aufgestellt und eine Feuergrube gegraben hatte. Als Letztes lud sie ihr Gewehr ab und stellte es neben ihren Schlafplatz. Mit diesem Gewehr schützte sie sich vor Wölfen, vor vier- wie vor zweibeinigen. Sie reiste und arbeitete immer allein. Das war ihr lieber, aber es blieb ihr auch gar nichts anderes übrig. Es gab nicht viele Frauen, die so leben wollten wie sie – in einer kalten, fremden und abweisenden Welt. Ohne häuslichen Komfort. Ohne Mann und Kinder. Ohne Sicherheit und Schutz.
Und was Männer anbelangte … Willa hätte sich gern einer Expedition angeschlossen, die von der Royal Geographical Society unterstützt wurde, aber dort wurde sie nicht angenommen. Diese Expeditionen wurden von Männer geplant und durchgeführt, und es war immer noch undenkbar, dass eine Frau an einer Entdeckungsreise zum Nord- oder Südpol, den Nil hinunter oder den Everest hinauf teilnahm, denn sie wäre mit Männern unterwegs, müsste mit ihnen klettern, essen und schlafen. Und das wurde nicht geduldet. Nicht von den Männern, mit denen sie geklettert wäre, sondern von den Männern der britischen Gesellschaft, die solche Expeditionen finanzierten.
Nachdem sie schließlich noch ihr Yak gefüttert hatte, bereitete sie sich selbst ein kleines Mahl aus Tee und Sampa – einer Mischung aus Hafermehl, Zucker und ranziger Yak-Butter – zu. Sie aß bewusst wenig, um dünn zu bleiben. Je dünner sie war, desto weniger wahrscheinlich bekam sie ihre Regel, die ohnehin schon eine Belastung war, aber in einer Welt ohne Spülklosetts und fließendem Wasser mehr als aufreibend.
Anschließend beschloss sie, ein wenig herumzuwandern. Es war später Nachmittag, zwei oder drei Stunden würde es noch hell bleiben. Als sie sich erhob, um den Teller abzuwaschen, spürte sie einen Stich. Die Prothese aus Yakknochen war zwar leichter und bequemer als die hölzerne, die sie sich in Bombay hatte anfertigen lassen, aber nach einem Tagesmarsch tat ihr Bein trotzdem weh. Der Stich wurde heftiger, und sie wusste, was jetzt folgen würde. Davor fürchtete sie sich am meisten. Die Leute redeten von Phantomschmerzen, von dem seltsamen, beunruhigenden Gefühl, das verlorene Glied sei immer noch vorhanden – aber das waren Menschen, die noch keines verloren hatten. Diejenigen, denen dies passiert war, kannten etwas anderes. Sie kannten den dumpfen,
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