Die Wildrose
Empfindungen peinlich. »Wenn Sie das könnten, Mr Finnegan, würden Sie nicht zögern, die Antarktis aufzugeben.«
»Oh, das weiß ich nicht, Mr Lawrence«, antwortete Seamie angriffslustig. »Ich glaube nicht, dass es Ihre Sanddünen mit meinen Eisbergen aufnehmen können. Ganz zu schweigen von meinen Seehunden und Pinguinen.« Sein Tonfall wurde ernst, und er ahmte die poetische Schilderung von Lawrence nach. »Ich wünschte, Sie könnten die Sonne über dem Weddell-Meer aufgehen sehen, wenn ihre Strahlen aufs Eis treffen und in Millionen Lichtfunken explodieren. Ich wünschte, Sie könnten bei Nacht den Gesang des Windes hören und das Knirschen der Eisschollen, die auf dem ruhelosen Meer treiben …«
Tom lauschte gebannt, während Seamie sprach. Sie redeten über gänzlich verschiedene Weltteile und fühlten sich dennoch sofort wesensverwandt, denn jeder verstand die Leidenschaft des anderen. Sie waren Entdecker, und beide spürten die Macht, die sie ins große Unbekannte zog. Sie kannten den Sog, der sie häusliche Bequemlichkeiten, die Nähe von Familie und Freunden aufgeben ließ. Es war kein Zufall, dass sie beide keine Ehefrauen hatten. Sie waren ihrer Leidenschaft verfallen, dem Wunsch, zu sehen, zu entdecken, zu erkennen. Sie gehörten nur ihrer Aufgabe und sonst niemandem.
Kurz nachdem er geendet hatte, fühlte Seamie einen Stich im Herzen. Es war so gut, mit diesen Menschen hier zusammenzusitzen. So wenige außer ihnen verstanden, was ihn antrieb. Es gab noch jemanden, der dies verstand. Aber sie war nicht hier, und er wünschte mit jeder Faser seines Herzens, sie wäre es.
»Ich gehe zurück, sobald ich kann«, sagte Lawrence, das entstandene Schweigen brechend, und drückte damit den Drang aus, den sie beide verspürten: aus dem grauen, erstickenden London herauszukommen, zurück in die wilde, lockende Ferne. »Ich gehe wieder nach Karkemisch. Ich habe kürzlich unter Leitung von William Ramsey, dem bekannten Bibelforscher, gearbeitet. Er ist beim Britischen Museum. Ich bin hier, um einen Bericht über unsere Funde abzuliefern. Das muss natürlich sein, aber sobald ich damit fertig bin, geht’s wieder in die Wüste zurück. Es gibt noch so viel zu tun. Und Sie, Mr Finnegan? Haben Sie weitere Abenteuer geplant?«
»Ja«, antwortete Seamie. »Und nein. Und … na ja, möglicherweise .«
»Das ist eine seltsame Antwort«, sagte Lawrence.
Das räumte Seamie ein. »Ernest Shackleton stellt wieder eine Expedition in die Antarktis zusammen, und ich bin sehr interessiert, daran teilzunehmen«, erklärte er. »Aber im Moment gibt es auch einen dringenden Grund, in London zu bleiben.«
»Wirklich?«, fragte Eddie und zog eine Augenbraue hoch. »Wer ist sie?«
Seamie ignorierte die Frage. »Clements Markham hat mir eine Stelle angeboten. Erst gestern. Ich soll helfen, Gelder für neue Expeditionen aufzutreiben. Ich hätte ein Büro, eine schöne Messingplakette an der Tür und ein regelmäßiges Gehalt, und seiner Meinung nach wäre ich ein Narr, wenn ich nicht annehmen würde.«
»Da hat er recht«, sagte Albie. »Das wärst du. Du wirst allmählich zu alt für die jungenhaften Abenteuer.«
»Vielen Dank, mich darauf hinzuweisen, Albie«, erwiderte Seamie.
Eine gewisse Melancholie senkte sich über Seamie und Lawrence nach dieser Bemerkung. Vielleicht hält er sich auch für zu alt für weitere Abenteuer, dachte Seamie. Oder vielleicht reist er genau wie ich durch die Welt, weil er jemanden verloren hat. Weil er hofft, wenn er nur weit genug wegfährt, sich extremer Witterung und Gefahren aussetzt und genügend Hunger und Krankheiten erlebt, würde er diese Person einfach vergessen. Was natürlich nie der Fall sein wird, dennoch lässt er nicht davon ab. Die seltsam traurige Stimmung hielt an, bis Lawrence fragte: »Und was machen Sie, Mr Alden?«
»Ich bin Physiker«, sagte Albie. »Ich unterrichte in Cambridge.«
»Er schreibt die schrecklichsten, unbegreiflichsten und unverständlichsten Formeln, die Sie je gesehen haben«, warf Eddie ein. »Auf eine Tafel in seinem Arbeitszimmer. Den ganzen lieben langen Tag. Eigentlich hat er ein Freisemester und sollte es ein bisschen langsamer angehen lassen. Aber stattdessen arbeitet er rund um die Uhr. Es ist absolut unmenschlich.«
»Tante Eddie …«, protestierte Albie verlegen lächelnd.
»Es stimmt doch, Albie. Du gönnst dir keine Ruhe. Keinen ausgiebigen Lunch. Gehst nie spazieren. Du siehst schon genauso bleich und ausgewaschen aus wie ein
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