Die Wildrose
bohrenden Schmerz, der sich in unerträgliche Qualen verwandelte. Sie kannten die verlorenen Tage, die ruhelosen Nächte.
Wie viele Male war sie schreiend aufgewacht? In wie vielen Nächten hatte sie ihr Laken zerrissen, geweint, geschrien und fast blind vor Schmerz den Kopf gegen eine Wand geschlagen? In zahllosen. Dr. Ribiero, der Arzt, der ihr Bein amputiert hatte, hatte ihr in der Zeit nach der Operation Morphium gegeben. Nur wenige Tage nach der Amputation war sie auf Krücken und mit ein paar Fläschchen dieser Droge im Gepäck aus Nairobi in Richtung Osten abgereist. Und nachdem dort der Vorrat an Morphium zu Ende gegangen war, hatte sie Opium entdeckt. Sie kaufte es auf den Märkten von Marokko, von Bauern in Afghanistan und bei Straßenhändlern in Indien, Nepal und Tibet. Es dämpfte den Schmerz in ihrem Bein und den noch stechenderen in ihrem Herzen.
Auch jetzt nahm sie welches. Sie zog ein kleines Stück der hart gewordenen Paste, die sie immer griffbereit bei sich hatte, aus der Manteltasche und rauchte es in einer Pfeife. Innerhalb von Minuten vertrieb die Droge den Schmerz. Schnell säuberte sie die Teller, prüfte, ob das Yak sicher angebunden war, und machte sich auf den Weg.
Während sie über den unberührten Gletscher streifte, fühlte sie sich so frei und ungezügelt wie ein Falke, der seine Kreise am Himmel zog, wie ein Fuchs, der durch den Schnee sprang, wie ein Wolf, der den Mond anheulte. Als sie die unteren Hügel des Everest erreichte, wurde die Wanderung mühsamer, aber immer noch ging es über das Eisfeld und eine zerklüftete Muräne hinweg. Doch das Terrain wurde schwieriger, und ihr künstliches Bein behinderte sie zunehmend, aber sie kehrte nicht um. Der Everest übte einen Zauber auf sie aus, dem sie nicht widerstehen konnte.
Leichtsinnig, unbedacht und fasziniert von dem Berg, weigerte sie sich anzuerkennen, dass sie gar nicht mehr klettern konnte. Mit ihrem guten Bein schob sie sich den Hang hinauf, nutzte aber auch ihr schlechtes, indem sie die geschnitzten, gefühllosen Zehen in Risse und Spalten rammte und mit dem künstlichen Fuß das Gleichgewicht hielt. Sie benutzte ihre starken, sehnigen Arme, um sich hinaufzuziehen, und ihre kräftigen Hände, um sich festzuhalten.
Immer weiter stieg sie hinauf, berauscht von dem kalten Weiß, dem Geräusch ihres Atems und dem unglaublichen Gefühl, nach oben zu klettern. Den Hang zu erklimmen. Sie kletterte gut und schnell, und dann passierte es. Sie verlor den Halt und rutschte ab. Sie stürzte nach unten und schrie, als sich die Kante der Prothese in ihr Fleisch grub. Sie fiel drei, sechs, zehn Meter nach unten. Nach fünfzehn Metern schaffte sie es, den Fall zu stoppen und sich im Fels festzukrallen. Dabei rissen zwei ihrer Fingernägel ab, was sie aber erst später spürte.
Dort hing sie nun, zitternd und schluchzend, das Gesicht in den Schnee gepresst. Ihre Verletzungen taten höllisch weh, aber es war nicht dieser Schmerz, der sie zum Weinen brachte. Sondern die schrecklichen Erinnerungen an den Mawenzi. Der Sturz hatte die alten Bilder und Empfindungen wieder wachgerufen, die sie jetzt überwältigten und lähmten, sodass sie sich keinen Zentimeter bewegen, sondern sich bloß mit geschlossenen Augen an den Hang klammern konnte.
Sie erinnerte sich an den Sturz und den Aufprall. Sie erinnerte sich, wie Seamie sie von dem Berg heruntergeholt, ihr zerschmettertes Bein geradegezogen und sie dann meilenweit getragen hatte. Und an die Schmerzen – die stechenden, unaussprechlichen Schmerzen.
Die Schmerzen, die sie gemeinsam mit dem Fieber bereits um den Verstand gebracht hatten, als Seamie schließlich mit ihr Nairobi erreichte. Der Arzt hatte nur einen Blick auf das Bein geworfen und dann entschieden, es sofort zu amputieren. Sie hatte ihn angefleht, es nicht zu tun, Seamie angefleht, es nicht zuzulassen. Aber der Arzt hatte ihr das Bein abgenommen, direkt unterhalb des Knies.
Seamie erklärte ihr, sie wäre gestorben, wenn er der Operation nicht zugestimmt hätte. Aber er begriff nicht, dass sie gestorben war, zumindest ein Teil von ihr. Sie würde nie mehr richtig klettern können. Ihr künstliches Bein besaß weder die Beweglichkeit noch die Stabilität, die man für anspruchsvolle Touren brauchte. In gewisser Weise war ihr Schicksal schlimmer als der Tod, denn jetzt blieb ihr nur noch, dafür zu sorgen, dass andere eines Tages den höchsten Berg der Welt bezwangen. Es war ein Leben, das sich mit Überresten begnügen
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