Die Wildrose
jetzt so dick angeschwollen, dass es sogar wehtut zu lächeln.«
»Es wird noch schlimmer werden, fürchte ich«, sagte Seamie. Und dann berührte er ganz unwillkürlich die Haut um das verletzte Auge. »Es wird noch ein bisschen dicker werden, aber in zwei, drei Tagen wird es abschwellen. Nur der Bluterguss wird noch eine Weile zu sehen sein.«
»Daraus schließe ich, dass Sie auch schon ein paar Veilchen kassiert haben«, sagte Jennie.
»Ja, ein, zwei«, räumte er ein. Dann half er ihr beim Einsteigen in die Kutsche.
Jennie setzte sich, beugte sich aber noch einmal vor, bevor er die Tür schließen konnte. »Sie werden doch versuchen, einen Besuch an unserer Schule zu ermöglich? Es sich wenigstens überlegen, ja?«
Seamie sah sie an, ihr armes Auge und ihre blutverschmierte Bluse. Er dachte an die Schläge, die Inhaftierung und Zwangsernährung, die sie bei ihrem Kampf ums Frauenwahlrecht ausgehalten hatte. Und ihm fiel ein, wie langweilig und grau ihm London erschienen war. Doch jetzt fragte er sich, ob das noch stimmte. »Ja, Miss Wilcott«, antwortete er schließlich. »Das werde ich.«
4
W illa Alden hielt ihr schwer beladenes Yak an und versank minutenlang in den Anblick, der sich ihr bot. Sie hatte ihn schon unzählige Male gesehen. Durch Kameralinsen, Fernrohre, Theodoliten und Sextanten. Sie hatte ihn fotografiert, gezeichnet, kartografiert und vermessen. Und immer noch raubte er ihr den Atem.
»Oh, du Schönheit«, flüsterte sie. »Du kalte, unglaubliche Schönheit.«
All die Gipfel, Kämme und schroffen Felswände vor ihr gehörten zum Everest. Ein weißes Wölkchen kreiste um die Spitze. Willa wusste, es waren Aufwinde, die Schnee hochwirbelten, aber sie stellte sich lieber vor, dass es der Berggeist sei, der um sein hohes Haus tanzte. Chomolungma nannten die Tibetaner den Everest – Muttergöttin der Berge.
Von ihrem Standplatz aus – ein paar Meilen südlich des Dorfes Rongbuk auf dem gleichnamigen Gletscher – konnte Willa die Nordflanke des Berges aufragen sehen. Immer wieder sagte ihr der Verstand, dass es keinen Weg zu dem verdammten Berggipfel gab, aber immer wieder, wenn sie die Nordflanke betrachtete, die abweisenden Fels- und Schneemassen, wollte ihr Gefühl das nicht glauben. Was ist mit diesem Kamm? Oder jener Felsnase?, fragte es. Und dieser Klippe … Von hier aus sieht es ziemlich schwierig aus, aber wenn sich ein sehr erfahrener Bergsteiger daran wagte, bei gutem Wetter und mit einer Sauerstoffflasche … Was dann?
Wegen der Höhenkrankheit gab es nicht die geringste Möglichkeit, den Everest ohne Sauerstoffflasche zu besteigen – dessen war sie sich sicher. Sie hatte schwer unter der Höhenkrankheit gelitten, als sie den Mawenzi-Gipfel des Kilimandscharo bestieg, und der war längst nicht so hoch.
»Warum?«, fragten Leute, die nicht verstehen konnten, was einen Bergsteiger antrieb, sein Leben zu riskieren, um den Gipfel zu erreichen.
Wenn ich ihnen nur diesen Anblick zeigen könnte, dachte sie, den majestätischen Everest, der sich in den blauen Himmel erhebt. Unberührt, makellos, wild und Furcht einflößend. Wenn ich ihnen das nur zeigen könnte, würden sie diese Frage nie mehr stellen. Aber bald würde die Welt sehen, was bloße Worte allein nicht ausdrücken konnten.
»Komm weiter, altes Haus«, sagte sie zu ihrem Yak.
Sie zog ihre Pelzmütze tiefer und schlug die behandschuhten Hände zusammen. Einen Moment lang verzerrte eine Grimasse ihr Gesicht, als sie und ihr Packtier weitergingen. Ihr Bein machte Ärger. Nur ein bisschen. Aber oft wurde es schlimmer, und dafür hatte sie heute keine Zeit. Sie wollte noch ein gutes Stück den Rongbuk-Gletscher hinauf und am frühen Nachmittag ihr Lager aufschlagen.
Während ihrer Zeit im Fernen Osten hatte sie der Royal Geographical Society Fotografien geschickt – Aufnahmen von Indien, seinen Tempeln, Städten und Dörfern. Seinen mächtigen Flüssen und trockenen Ebenen, seinen üppig grünen Hügeln und Tälern. Fotos von China und der Großen Mauer. Von Marco Polos Seidenstraße und Gengis Khans Mongolei. Sir Clements Markham hatte ihre Bilder ausgestellt und in Büchern veröffentlicht, die ihr ein wenig Geld einbrachten.
Vor zwei Jahren hatte sie Markham ein neues Projekt vorgeschlagen – einen Band mit Fotos des Himalajagebirges. Vom Annapurna. Vom Nilgiris. Und vom Everest.
Vor ein paar Monaten hatte sie seine Antwort erhalten, die nur aus einer Zeile bestand: Himalaja. Ja. Wie schnell? Und
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