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Die Wildrose

Die Wildrose

Titel: Die Wildrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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eine Frau bin, sondern ich bitte Sie, für Sam Wilson zu stimmen, weil ich Mitglied der Labour-Partei bin, genau wie er.«
    Jubelrufe brachen aus – zum ersten Mal an diesem Abend.
    »Ihr Frauen dort draußen – euer Land hat euch in Zeiten der Not gerufen, und ihr seid diesem Ruf gefolgt«, rief Katie erregt. »Ihr habt gearbeitet, euch aufgeopfert und viel entbehrt, aber nie gewusst, ob ihr eure Söhne, Brüder und Ehemänner je wiederseht. Einige von euch bekamen Telegramme, in denen stand, dass ihr sie nie mehr wiederseht. Und wer ist jetzt für euch da? In eurer Zeit der Not?«
    Eine Gruppe Frauen vorn in der Halle applaudierte frenetisch.
    »Ihr Männer – ihr habt um diesen elenden Krieg nicht gebeten, ihn aber dennoch bekommen«, fuhr Katie fort. »Ihr habt die wahre Hölle durchgemacht an den Ufern der Somme und der Marne. Im Atlantischen Ozean. Im Mittelmeer. Hunderttausende … nein, Millionen eurer Kameraden sind gefallen, die trauernde Mütter, Väter, Ehefrauen und Kinder zurücklassen. Viele sind verwundet zurückgekehrt, unfähig zu arbeiten und oft zu geschädigt, um sich je wieder in die Gesellschaft einzugliedern. Ihr habt für uns gekämpft – und wer kämpft jetzt für euch?«
    Ein neuer Ruf wurde laut – keine Buhrufe, keine Beleidigungen, nur ein Wort: »Labour! Labour! Labour!«
    Katie dämpfte diese Stimmen nicht, sondern ließ sie ihren Schlachtruf singen, bis die Balken der Markthalle erzitterten.
    Erst als sich die Menge wieder beruhigt hatte, fuhr sie fort: »Meine Damen und Herren, wir sind nicht mehr dieselben Menschen wie vor vier Jahren. Wir leben jetzt in einer veränderten Welt, in einer Welt, die der Krieg verändert hat, und deshalb können wir die Politik der alten Welt nicht mehr akzeptieren. Geben Sie Sam Wilson eine Chance, geben Sie der Labour-Partei eine Chance, um Sie in dieser neuen Welt zu vertreten. Sie haben gekämpft, gearbeitet, ertragen … Jetzt ist die Labour-Partei an der Reihe. Lassen Sie Sam kämpfen. Lassen Sie ihn kämpfen für bessere Jobs für die Heimkehrer und für bessere Pensionen für die Familien derjenigen, die nicht mehr heimkamen. Lassen Sie ihn kämpfen für mehr Krankenhäuser für die Verwundeten, für mehr Schulen für die Kinder unserer tapferen Soldaten und Seeleute. Bürger von Limehouse, lasst Sam Wilson für euch kämpfen.«
    Jubel brandete auf. Hüte wurden in die Luft geworfen. An die fünfhundert Stimmen riefen: »Wilson! Wilson! Wilson!«
    Joe sah seine Tochter an, die mit hocherhobenem Kopf, geröteten Wangen und funkelnden blauen Augen auf dem Podium stand – und platzte fast vor Stolz. Er kannte nicht viele einundzwanzigjährige Mädchen, die an der Universität exzellente Noten schrieben, ihre eigene Zeitung herausbrachten und in den Ferien für einen zukünftigen Abgeordneten Wahlkampf führten.
    »Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, wie’s aussieht«, sagte ein Mann neben ihm.
    Joe drehte sich um. Die Stimme war ihm wohlbekannt. »Na, wenn das nicht James Devlin ist«, sagte er.
    James Devlin war Journalist und Herausgeber des Clarion, einer Ostlondoner Zeitung. Katie ließ ihr Blatt, den Schlachtruf , bei ihm drucken.
    »Sie ist ein mutiges Mädchen, Joe. Das muss man ihr lassen. Ich habe Männer – erfahrene Politiker – den Schwanz einziehen und davonlaufen sehen, wenn sie vor einer solchen Meute standen.«
    »Sie ist die tapferste Frau, die mir je untergekommen ist. Abgesehen von ihrer Mutter natürlich.«
    »Sie hat die Menge hier richtig eingeschätzt«, erwiderte Devlin bewundernd. »Als sie den Leuten sagte, wie sehr der Krieg die Dinge verändert hat. Und nicht zum Besseren. Aber nicht jeder Kandidat stellt sich hin und rückt damit heraus. Die Waffenstillstandsfeiern sind einen Monat her, aber viele schlagen immer noch die Trommel und schwafeln von Ruhm und Ehre und solchem Zeug. Der Tod ist nicht sonderlich ruhmreich, oder?«
    Joe schüttelte den Kopf. Devlin hatte recht. Der Krieg war vorbei, wofür die zerrüttete Welt dankbar war, aber er hatte die Dinge für immer verändert. Nichts war mehr so wie zuvor. Keine Familie war verschont geblieben. Die seine jedenfalls hatte es schwer getroffen. Der arme Charlie litt immer noch an der Kriegsneurose. Seine Heilung ging quälend langsam voran. Jennie war tot. Und Maud. Und Seamie. Sein Schiff war im Mittelmeer untergegangen, seine Leiche war nie gefunden worden. So konnte er nicht einmal begraben werden. Sein kleiner Sohn, fast vier inzwischen, war jetzt eine

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