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Die Wildrose

Die Wildrose

Titel: Die Wildrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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an der Breitseite. Flammen schossen hoch, und zehn Minuten später sank sie auf den Grund der blauen See.

Dritter Teil
    Dezember 1918
    London

   97   
    H ey, Miss!«, rief ein Betrunkener aus der Menge. »Wenn ich dein Mann wär, würd ich dir deinen Tee vergiften!«
    »Und wenn ich deine Frau wär, würd ich ihn trinken!«, rief Katie Bristow lachend zurück.
    Die Menge in der vollen Markthalle brach in schallendes Gelächter aus. Gerade hatte sie allen Anwesenden bewiesen, dass sie eine von ihnen war – derb, streitlustig und schlagfertig.
    Joe, der bislang mit geballten Fäusten, verkniffenem Mund und grimmiger Miene in seinem Rollstuhl gesessen hatte, musste ebenfalls lachen. Er hätte dem Typen, der seine Tochter so unflätig angebrüllt hatte, zwar am liebsten eine Ohrfeige verpasst, aber Katie wäre stocksauer gewesen, wenn er sich auch nur auf einen Wortwechsel mit ihm eingelassen hätte. Sie hatte ihm verboten, sich bei ihren Reden einzumischen, egal, wie wüst und ungebärdig sich ihre Zuhörer auch verhalten mochten.
    »Hör zu, Dad, du darfst nicht mitkommen, wenn du jedes Mal in Rage gerätst, sobald irgendjemand sein Maul aufreißt. Wie sieht das denn aus? Als bräuchte ich meinen Vater, wenn’s hart auf hart geht. Das kommt nicht gut an – weder bei Sams Kampagne noch in Zukunft bei meinen eigenen. Also, wenn du kommen willst, dann sei still.«
    Das hatte Joe versprochen, weil er nicht ausgeschlossen werden wollte. Weil er kein einziges Wort seiner Tochter verpassen wollte. Sie war eine umwerfende Rednerin – gewitzt und mitreißend. Aber es fiel ihm schwer, ruhig zu bleiben. Er hatte schon viele Wahlkämpfe durchgestanden – für sich und andere Labour-Kandidaten – und wusste genau, zu welchen Unflätigkeiten eine Menschenmenge fähig sein konnte. Aber nichts in seiner gesamten Laufbahn als Politiker kam den Obszönitäten gleich, die Katie an den Kopf geschleudert wurden.
    Die Parlamentswahlen waren für den 10. Dezember angesetzt worden, und Katie, die dank ihrer Zeitung und der Unterstützung durch die Gewerkschaften in Ostlondon bekannt war, nutzte ihre Weihnachtsferien, um für Samuel Wilson, den Kandidaten der Labour-Partei, Wahlkampf zu machen. Er bewarb sich um den Sitz von Tower Hamlets, der auch Limehouse einschloss, und dort befanden sie sich im Moment.
    Sofort nachdem sie begonnen hatte, sich öffentlich für Wilson einzusetzen, gingen die Zeitungen auf sie los und bezeichneten sie als unweiblich und widernatürlich. Einige Leute, die sie auf Wilsons Seite zu ziehen hoffte, bedachten sie mit noch schlimmeren Ausdrücken. Erwachsene Männer pfiffen sie aus und brüllten Dinge dazwischen, die eher in eine Kaschemme als in eine Versammlungshalle gepasst hätten und bei denen die meisten Frauen – und sogar einige Männer – vor Scham vom Podium geflüchtet wären.
    Aber nicht seine Katie. Sie wartete einfach mit gefalteten Händen ab, bis ihre Widersacher geendet hatten, und gab es ihnen doppelt so grob zurück.
    »Ach Katie«, hatte Fiona gejammert, nachdem sie die erste Rede ihrer Tochter gehört hatte. »Diese Männer waren wirklich grässlich. Verletzt dich das denn nicht?«
    »Das lass ich nicht an mich heran, Mum«, erwiderte Katie. »Das darf ich nicht. Eines Tages werde ich für mich selbst Wahlkampf machen, und dann wird’s noch schlimmer. Jetzt kann ich lernen, mit der Menge umzugehen. Das ist eine gute Schule, um Erfahrungen zu sammeln.«
    Während Joe Katie weiter zuhörte, wies jemand im Publikum darauf hin, dass ihr Platz als Frau im Haus sei.
    »Ich bin vollkommen Ihrer Meinung«, erwiderte Katie und lächelte hinterhältig. »Genau deswegen bin ich hier, verstehen Sie. Weil ich eines Tages im Haus sein will – im Unterhaus.«
    Es gab erneut Gelächter, und sie stimmte ein, aber dann wurde sie ernst.
    »Ja, ich bin eine Frau«, fuhr sie plötzlich mit stahlharter Stimme fort. »Und sehr stolz darauf. Der Krieg ist jetzt vorbei. Genau wie die Feiern zum Waffenstillstand. Aber lasst uns nicht vergessen, dass es die Frauen waren, die ihr Zuhause zusammenhielten, während die Männer fort waren. Es waren Frauen, die in Munitionsfabriken schufteten, am Abend heimkamen und aus den kargen Rationen ein Essen auf den Tisch brachten. Es waren Frauen, die vier harte Jahre die Familien dieses Landes am Leben erhielten. Und deshalb bin ich stolz, aber so stolz ich darauf auch bin, ich stehe heute nicht vor Ihnen und bitte Sie, für meinen Kandidaten zu stimmen, weil ich

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