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Die Wildrose

Die Wildrose

Titel: Die Wildrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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Waise. Er und Fiona hatten ihn zwar sofort aufgenommen und liebten ihn, als wäre er ihr eigenes Kind, aber er hatte sonst niemanden mehr. Jennies Vater, Reverend Wilcott, war kurz nach seiner Tochter an der Spanischen Grippe gestorben. Der Mann, der für Mauds Tod, Jennies quälende Gewissensbisse und vermutlich auch für Seamies Untergang verantwortlich war – Max von Brandt –, weilte angeblich auch nicht mehr unter den Lebenden. Aber Joe glaubte das nicht. Niemand war in der Lage gewesen, die Berichte aus Damaskus zu bestätigen oder zu widerlegen, und er bezweifelte, ob dies je möglich wäre.
    India und Sid waren nach Kalifornien zurückgekehrt. Die Familie Harris, die das Kriegsende in Inverness abgewartet hatte, war ihnen gefolgt. Das Hospital in Wickersham Hall nahm immer noch Veteranen auf und kümmerte sich um ihre Rehabilitation. India hatte ihre Nachfolgerin, Dr. Allison Reade, die von Harriet Hatcher empfohlen worden war, sorgfältig ausgewählt, und India und Sid finanzierten gemeinsam mit Joe und Fiona das Hospital auch weiterhin.
    »Finden Sie denn noch Zeit, um für Ihren eigenen Sitz Wahlkampf zu machen?«, fragte Devlin.
    »Kaum noch«, antwortete Joe. Er war zum Parteiführer ernannt worden und reiste im ganzen Land umher, um in Wahlkreisen weit entfernt von London Kandidaten zu unterstützen.
    »Nun, sehen Sie mal zu, dass Sie ihn nicht verlieren«, warnte ihn Devlin. »Diesmal sieht es nicht so aus, als würde die Labour-Partei Stimmen zugewinnen. Davon hab ich mich selbst überzeugt. Bei Versammlungen in ganz London.«
    »Ich denke, das Beste, was wir erhoffen können, ist, dass wir ein paar Stimmen dazugewinnen, aber die Liberalen die Wahl gewinnen«, erwiderte Joe. »Es wird noch einige Jahre dauern, bis wir einen von uns in der Downing Street Nummer 10 sehen. Möglicherweise nicht mehr zu meiner Zeit, aber zu Katies hoffentlich. Vielleicht halte ich aber lange genug durch, um das noch zu erleben.«
    »Dann mischen Sie also noch ein paar Jahre mit?«, fragte Devlin. »Kein hübscher, friedlicher Ruhestand für Sie?«
    »Wenn ich Gelegenheit dazu hätte, wär das prima, James«, antwortete Joe.
    »Warum denn nicht? Der Krieg ist vorbei, schon vergessen?«, scherzte Devlin.
    »Hab ich nicht, aber ich frage mich manchmal, ob der Krieg – derjenige, den wir seit jeher tagtäglich ausfechten – jemals vorbei sein wird. Es ist hart und ermüdend für die Knochen.«
    »Ja, das stimmt. Vor allem für alte Knochen. Wie die unserigen.«
    Joe lachte. Er war jetzt dreiundfünfzig, und obwohl es Tage gab, an denen er sein Alter spürte und am liebsten mit einer Kanne Tee und den Morgenzeitungen im Bett geblieben wäre, gab es andere, da fühlte er sich der Sache der Sozialreformen genauso leidenschaftlich verpflichtet wie schon sein ganzes Leben lang. Tatsächlich sogar noch mehr als früher. Denn inzwischen war er nicht nur Parteichef geworden, sondern hatte zudem die Leitung verschiedener Regierungsausschüsse übernommen, die sich um Veteranen, Bildung und Arbeitslose kümmerten. Fiona war zwar nicht einverstanden gewesen, dass er sich in seinem Alter noch zusätzliche Arbeit aufbürdete. Ob er sich denn keine Briefmarkensammlung zulegen und ein friedliches Leben führen könne, fragte sie. Aber Joe wusste, dass er das nicht konnte, weil es keinen Frieden gab.
    Der Schmerz über Charlies Schicksal war der Beweis, dass es nie welchen geben würde. Jedenfalls nicht für ihn. Die Vorstellung von Frieden und Behaglichkeit löste sich jedes Mal in Luft auf, wenn er seinen Sohn und all die anderen armen, verstümmelten jungen Männer sah, die immer noch in Wickersham Hall lebten und vermutlich für immer dort bleiben mussten, weil es für sie keinen Platz in der Gesellschaft gab. Das gleiche Gefühl hatte er, wenn er durch die Armenviertel im Londoner East End, in Liverpool, Leeds, Glasgow und Manchester fuhr und sah, dass sich dort auch nach dem Krieg nichts geändert hatte.
    »Wie steht’s mit Ihnen, Dev?«, fragte Joe. »Sie sind doch auch kein junger Hüpfer mehr. Haben Sie vor, in nächster Zeit aufzugeben und die Schreibmaschine gegen eine Angelausrüstung einzutauschen?«
    Devlin schnaubte verächtlich. »Und die Nachrichten in London der Fleet Street überlassen? Bestimmt nicht. Irgendjemand muss doch noch die Wahrheit schreiben.«
    Joe lächelte. James Devlin hatte auf seine Weise auch für das Gute gekämpft. Er liebte zwar reißerische und blutrünstige Geschichten, weil sie Auflage

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