Die Wildrose
hübsches Gesicht dafür, dass ein paar Musiksäle ausverkauft sind. Mein Agent ist nicht so überzeugt davon«, antwortete Oscar lächelnd.
»Machen Sie es sich auf dem Diwan bequem«, sagte Willa. »Ich bin gleich wieder da.«
»Das Letzte, was ich jetzt möchte, ist, mich schon wieder zu setzen«, erwiderte Oscar und ging zu der Wand, wo verschiedene Fotos angeheftet waren. »Ich würde mir viel lieber Ihre Arbeit ansehen. Schon seit ich hier hereingekommen bin, wollte ich mich ein bisschen umschauen.«
Willa lebte und arbeitete in einem ehemaligen Hutmacher-Atelier am Montparnasse, in das sie erst vor zwei Wochen von einer Wohnung umgezogen war. Das Atelier befand sich im obersten Stock eines heruntergekommenen Gebäudes, bot aber wesentlich mehr Platz als ihre alte Wohnung und war zudem hell und ziemlich billig.
»Ganz wie Sie wollen«, sagte sie.
Sie brachte ihre Kamera in die Dunkelkammer – ein kleines Abteil, das sie mithilfe schwarzer Tücher um das einzige Wasserbecken geschaffen hatte – und legte sie vorsichtig auf die Arbeitsplatte. Den Film würde sie später entwickeln, wenn sie allein war. Neben dem Becken lagen eine Spritze, ein Gummiband, das als Aderpresse diente, und ein Fläschchen mit Morphium. Auch damit würde sie sich später beschäftigen. Wenn der Film entwickelt war. Wenn sie wieder zurück war von den Ausflügen in die Nachtcafés, die sie mit ihrer Freundin Josie besuchte. Wenn es nichts mehr zu tun und keine Ablenkung mehr gab und sie wieder ganz allein wäre mit ihren Gespenstern und ihrem Schmerz.
Das Morphium hatte sie nach ihrer Ankunft in Paris von einem Arzt bekommen, dem sie erklärte, dass sie die Schmerzen in ihrem amputierten Bein unter Kontrolle bringen müsse. Was bis zu einem gewissen Grad auch stimmte. Das Bein machte ihr allerdings fast gar keine Beschwerden mehr, ganz im Gegensatz zu manchen anderen Dingen. Wenn inzwischen auch Frieden herrschte, für sie gab es keinen Frieden, und es würde nie welchen geben.
Willa nahm eine halb geleerte Weinflasche vom Regal, zog den Korken heraus und füllte zwei Gläser. »Prost«, sagte sie, als sie aus der Dunkelkammer zurückkam. »Danke, dass Sie sich so wunderbar fotografieren ließen.«
Oscar schien sie nicht zu hören. Er betrachtete die Fotos an den Wänden. Sie reichte ihm eines der Gläser. »Ich war übrigens in Ihrem Konzert in der Oper vor zwei Tagen. Ich fand es großartig. Woran arbeiten Sie gerade?«
»An einer neuen Symphonie. Einer neuen musikalischen Sprache für eine neue Welt«, antwortete er gedankenverloren.
»Ist das alles?«, fragte Willa scherzend und trank einen Schluck.
Oscar lachte. »Ich höre mich wie ein Verrückter an, nicht wahr?«, fragte er und drehte sich zu ihr um. »Tut mir leid, aber ich war abgelenkt. Kein Wunder! Das hier ist ja unglaublich«, sagte er und deutete auf einen Schwarz-Weiß-Akt.
Willa warf ebenfalls einen Blick darauf. Es war ein Selbstporträt. Sie hatte es vor zwei Wochen aufgenommen und gemeinsam mit ein paar anderen Fotografien in einer hiesigen Galerie ausgestellt. Es trug den Titel Odalisque und zeigte sie vollkommen nackt auf dem Bett sitzend, ohne Prothese und ohne die Schrammen und Narben ihres Körpers zu verbergen. Den Blick hatte sie nicht schamhaft abgewandt, stattdessen starrte sie herausfordernd in die Kamera. Das Foto wurde von der bürgerlichen Presse als »schockierend kühn« und »subversiv« bezeichnet, fortschrittlichere Kritiker schrieben ihm eine »bestechende Symbolik« zu, nannten es »verstörend« und »eine moderne, vom Krieg beschädigte Odaliske für unsere moderne, vom Krieg zerrissene Welt«.
»Hatten Sie keine Angst? So nackt? So verletzlich?«, fragte Oscar.
»Nein«, antwortete Willa. »Wovor soll ich mich noch fürchten? Ich habe jede Menge Narben, mir fehlen Körperteile. Geht’s uns nicht allen so nach den vergangenen vier Jahren?«
Oscar lächelte traurig. »Ja, das ist wahr.«
Er ging von einem Foto zum nächsten. Manche waren gerahmt, manche nur an die Wand gepinnt, die meisten jedoch mit Wäscheklammern an einer Leine befestigt, die von einem Ende des Raums zum andern reichte.
»So etwas habe ich noch nie gesehen«, sagte er leise.
»Nein«, erwiderte Willa. »Das haben die meisten Leute nicht. Darum geht es wahrscheinlich.«
Willas Aufnahmen waren keine hübschen Bilder von Kindern, Parks und Pariser Bürgern beim Sonntagsspaziergang. Es waren Fotos von Prostituierten und Zuhältern. Von verkrüppelten Soldaten,
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