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Die Wildrose

Die Wildrose

Titel: Die Wildrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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machten, aber er hatte auch zahllose Reportagen über gefährliche Arbeitsbedingungen in Dockanlagen und Fabriken und über drohende Gesundheitsgefahren aufgrund der beengten Wohnverhältnisse in den Armenvierteln veröffentlicht. Auf seine Weise hatte Devlin genauso viel getan wie Joe, um die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die grauenvollen Entbehrungen der Armen zu lenken, und Joe wusste, dass es ein ausgeprägtes Gefühl für soziale Gerechtigkeit war, das James Devlin jeden Morgen an den Schreibtisch trieb.
    »Wissen Sie was«, sagte Joe und streckte die Hand aus, »wenn wir unseren Krieg gewonnen haben – denjenigen, der immer noch tobt –, dann kümmern wir uns um den Frieden. Vorher nicht. Abgemacht?«
    »Einverstanden«, antwortete er lächelnd und schüttelte Joes Hand.
    Erneut brach im vorderen Teil der Markthalle Jubel aus. Joe und Devlin drehten sich um und sahen, dass einige der Zuhörer die Bühne gestürmt hatten und Sam Wilson nach Beendigung seiner Rede auf die Schultern hoben. Danach ergriffen sie Katie, hoben sie ebenfalls hoch und marschierten durch die Halle auf die Straße hinaus, wo eine noch größere Menge jubelte.
    »Dürfte ein interessanter Wahlkampf werden«, sagte Devlin, während Sam und Katie die Straße hinunter verschwanden. Er verlagerte das Gewicht von einem Fuß auf den anderen und stöhnte leise auf. »Arthritis«, erklärte er und schüttelte den Kopf. »Macht mir inzwischen mehr Ärger als je zuvor. Ich muss sagen, ich bin froh, dass jetzt die Jungen den Kampf ausfechten.« Er schob seinen Hut zurück. »Aber ich möchte ihn nicht verpassen.«
    »Ich auch nicht, Dev«, erwiderte Joe lächelnd. »Nicht um alles in der Welt.«

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    H alten Sie still, Oscar«, sagte Willa. »Nur noch ein paar  Sekunden, dann dürfen Sie aufstehen. Versprochen. Das unglaubliche Licht hält nicht mehr lange an, weil im Dezember die Tage viel zu kurz sind. Sehen Sie doch mal aus dem Fenster.«
    Oscar Carlyle, ein Musiker, schloss die Hände um seine Trompete, drehte sich um und blickte hinaus.
    »Das ist … perfekt!«, sagte Willa.
    Seine Augen gingen weit auf, genau wie sie erwartet hatte. Um seinen Mund spielte ein Lächeln. Das Licht der untergehenden Sonne, das durch die riesigen Fenster in Willas Atelier einströmte, bewirkte diesen Effekt bei Leuten. Es faszinierte sie. Verzauberte sie. Es machte sie lockerer, und sie öffneten sich für ein paar Sekunden, gerade lang genug, damit sie das atemlose Staunen, den Ausdruck der Verwunderung auf ihrem Gesicht einfangen konnte. Gerade lang genug, damit sie ihnen einen winzigen Teil ihrer Seele entreißen und für immer auf Film bannen konnte.
    »Sonnenuntergang über Paris. Was für ein unglaublicher Anblick«, sagte Oscar mit seinem harten Brooklyner Akzent. »Wie schaffen Sie es, hier überhaupt zu arbeiten? Ich würde den ganzen Tag nur aus dem Fenster starren.«
    »Nicht sprechen!«, tadelte Willa. »Sie ruinieren ja alles.«
    Sie schoss ein Foto nach dem anderen und arbeitete in den verbleibenden paar Minuten, die das Licht ihr noch gönnte, so schnell sie konnte. Sie wollte etwas Magisches einfangen in dieser Sitzung, etwas Außergewöhnliches.
    Die Aufnahmen waren vom Life -Magazin in Auftrag gegeben worden. Es brachte einen Artikel über Oscar, einen jungen Avantgarde-Komponisten, und wollte für die Bilder einen ebenso avantgardistischen Fotografen.
    Vor einem Monat war der Krieg zu Ende gegangen, und die Menschen fingen an, sich aufzurappeln und den Staub von den Kleidern zu klopfen. Man sehnte sich nach Neuigkeiten, die nicht nur Tod und Krankheit und Zerstörung betrafen. Erst kürzlich hatte Willa Auftrage für Porträts des Dichters James Joyce und des temperamentvollen spanischen Malers Pablo Picasso erledigt.
    Als die Redakteure von Life hörten, dass Oscar von seinem Wohnort in Rom nach Paris kommen würde, um hier aufzutreten, schrieben sie sofort an Willa, um die Sitzung zu vereinbaren. Sie war erst seit zwei Monaten in Paris – seit Anfang November – und hatte sich bereits einen Namen gemacht.
    Nach ungefähr dreißig weiteren Fotos versank die Sonne hinter den Dächern der Stadt, und Willa legte ihre Kamera weg. »Das war’s. Schluss für heute.«
    »Gott sei Dank«, antwortete Oscar, stand auf und streckte sich.
    »Ich schätze, es sind ein paar gute Einstellungen dabei. Sie haben ein erstaunliches Gesicht. Sensibel und ausdrucksstark. Der Traum eines jeden Fotografen.«
    »Hoffentlich sorgt mein

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