Die Wildrose
einem kurzen Winken von den Vertretern der Presse und ging in seinen Regierungssitz zurück.
»Mr von Brandt«, sagte Joe, als die deutschen und britischen Politiker ihm folgten. »Dürfte ich Sie einen Moment sprechen?«
Max blieb stehen und drehte sich mit fragender Miene um.
»Hier drinnen«, bat Joe und deutete auf ein Empfangszimmer neben dem Foyer.
Max folgte Joe. Sobald sie in dem Raum waren, schloss Joe die Tür. »Berlin hätte jemand anderen schicken sollen. Irgendjemanden, aber nicht Sie.«
»Es tut mir leid, dass Sie das so empfinden, Mr Bristow. Ich hoffe, meine Arbeit hat nichts zu wünschen übrig gelassen?«
»Ich weiß, wer Sie sind. Und was Sie sind. Maud Selwyn-Jones ist durch Ihre Hand gestorben, nicht wahr? Warum? Weil sie etwas gesehen hat, was sie nicht hätte sehen sollen. Gladys Bigelow hat sich umgebracht, weil Sie sie erpresst haben. Jennie Finnegan sank ins Grab, gepeinigt von Schuldgefühlen, weil sie Ihnen, einem deutschen Spion, geholfen hat. Ihr Ehemann wurde fast getötet aufgrund der Informationen, die Ihr Spionagering nach Berlin weitergegeben hat. Aber ich schätze, im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt, ist es nicht so?«
Max schüttelte den Kopf und lächelte Joe verwundert an. »Ich fürchte, ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen, Mr Bristow. Aber bevor Sie den Ruf eines Mannes zerstören, indem Sie ihn der Spionage und des Mordes bezichtigen, sollten Sie besser Beweise vorlegen. Stichhaltige Beweise. Die britischen Gesetze hinsichtlich Verleumdung sind ziemlich streng, soweit ich weiß.«
Max hatte natürlich recht. Joe konnte ihm nichts nachweisen. Er selbst glaubte Jennie Finnegans und John Harris’ Aussagen, aber andere würden das nicht tun. Und er erinnerte sich auch, was mit Jack Flynn passiert war, als sie ihn wegen Spionage festnehmen lassen wollten.
»Sie skrupelloser Mistkerl«, erwiderte Joe. »Ich würde Ihren Kopf an die Wand nageln, wenn ich aus diesem Rollstuhl aufstehen könnte.«
»Dann kann ich ja von Glück reden, dass Sie das nicht können. Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf. Die Dinge sind nicht immer so, wie sie scheinen, Mr Bristow, vor allem in der Politik nicht. Der Krieg ist vorbei. Das hat die ganze Welt akzeptiert. Ich rate Ihnen dringend, das auch zu tun. Guten Tag.«
Mit einem eisigen Lächeln ging Max hinaus und schlug die Tür hinter sich zu. Joe starrte ihm nach, wohl wissend, dass er ihm nichts anhaben konnte. Wohl wissend, dass er nur Theorien und Berichte aus zweiter Hand aufzubieten hatte. Und dass ein heimtückischer, gefährlicher Mann erneut durch die Straßen von London streifte und er ihn nicht aufhalten konnte. Wenn er es nur könnte. Wenn es nur eine Möglichkeit gäbe, irgendeine , um der Welt zu zeigen, wer Max von Brandt wirklich war.
»Verdammt«, sagte Joe laut. Er nahm einen Briefbeschwerer und schleuderte ihn gegen die Tür. Er zerbrach in tausend nutzlose Scherben.
106
W illa lag ausgestreckt auf ihrem Bett und träumte. Sie war in einen tiefen, narkotischen Schlaf gefallen. Neben dem Bett befanden sich ein Gummiband und eine Spritze. Ein dünner Blutfaden rann aus ihrer rechten Armbeuge.
Sie träumte, sie stünde auf einem Bahnsteig, ganz allein. Es war dunkel und spätnachts. Ein kalter Wind heulte. Es war ein gefährlicher Ort. Sie wusste, sie musste weg von hier, hatte aber keine Ahnung, wie sie das anstellen sollte. Es gab keine Hinweisschilder, keine Türen und Treppen, keinen Ausgang.
Der Schmerz war heute Nacht sehr schlimm gewesen – das wusste sie noch. Früher am Abend war sie an der Seine entlanggegangen. Sie wollte Wein, Brot und Käse kaufen. Ein Mann war auf sie zugekommen. Er sah gut aus, war groß gewachsen und hatte rotes Haar, und für den Bruchteil einer Sekunde setzte ihr Herzschlag aus, weil sie dachte, er sei es: Seamie. Aber natürlich stimmte das nicht. Seamie war tot.
Danach fühlte sie sich vollkommen niedergeschlagen und entsetzlich allein. Die Gewissheit, dass sie sein Gesicht nie mehr wiedersehen würde, war unerträglich. Sie eilte in ihre Wohnung zurück, warf die Einkäufe auf den Tisch, band die Aderpresse um den Arm und spritzte sich Morphium. Nichts konnte sie retten. Weder ihre Arbeit noch Oscar. Er war ein guter Mann, aber sie liebte ihn nicht. Konnte ihn nicht lieben. Etwas in ihr war mit Seamies Tod gestorben – ihr Herz. Jetzt wollte sie, dass auch der Rest von ihr starb.
Im Traum fuhr ein Zug ein und stieß eine Dampfwolke aus. Sie war so froh.
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