Die Wildrose
Der Wind war noch kälter geworden, die Dunkelheit noch bedrohlicher. Sie wollte unbedingt einsteigen. Graue, ausdruckslose Gesichter starrten sie durch die Fenster an, aber sie machten ihr keine Angst. Seamie ist in diesem Zug, dachte sie. Das weiß ich. Mehr als alles andere wollte sie sein Gesicht wiedersehen, seine Stimme hören, ihn berühren. Sie stieg in den Zug und suchte nach ihm, konnte ihn jedoch nicht finden. Sie hastete von einem Waggon zum nächsten. »Wo ist er?«, fragte sie laut. »Wo?« Rennend rief sie seinen Namen. Aber er war nicht da.
»Willa!«
Sie blieb stehen und drehte sich um. War er das? Er musste es sein. Aber wo war er?
»Seamie!«, rief sie. »Seamie, wo bist du?«
»Willa. Komm, setz dich auf …«
Sie spürte plötzlich einen Schmerz, scharf und brennend. Jemand schlug ihr ins Gesicht. Tat ihr weh. Immer und immer wieder.
»Hör auf!«, schrie sie. »Lass mich los!«
»Du bist bei Bewusstsein, Gott sei Dank. Willa, mach die Augen auf.«
Sie versuchte es. Aber es war so schwer.
Jemand riss sie hoch. Ein Glas wurde an ihre Lippen gedrückt. Die Stimme drängte sie zu trinken. Willa trank, dann zwang sie sich, die Augen zu öffnen. Josie beugte sich über sie. Sie sah verängstigt aus. Und trug ein zauberhaftes Kleid.
»Du siehst so hübsch aus. Gehst du aus?«, fragte Willa murmelnd.
»Das wollte ich«, erwiderte Josie knapp. »Wir wollten uns zum Dinner treffen. Mit Oscar. Erinnerst du dich? Wie viel Morphium hast du dir gespritzt?«
»Nicht genug offensichtlich«, antwortete Willa.
»Los jetzt. Steh auf«, befahl Josie. »Trink einen starken Kaffee, lauf ein bisschen auf und ab, damit du wieder zu dir kommst.«
Während Josie versuchte, sie aus dem Bett zu kriegen, hörte sie eine andere Stimme – eine männliche Stimme. »Verdammt, Willa«, sagte Oscar. Er sah tief betrübt aus.
»Es tut mir leid«, flüsterte Willa.
»Wie konntest du das tun?«, fragte er.
»Ach, Oscar«, antwortete sie mit brüchiger Stimme. »Wie denn nicht?«
107
B illy Madden nahm sein Glas Whisky – das fünfte während der letzten Stunde – und stürzte es hinunter. Auf dem Tisch vor ihm, neben der Flasche, stand ein Foto seiner drei Söhne. Es war kurz vor ihrer Einschiffung nach Frankreich aufgenommen worden. Alle drei trugen Uniform.
»Ich kann’s immer noch nicht glauben, Bennie«, sagte er. »William und Tommy tot. Und Peter im Hospital. Kann nicht sprechen. Kaum gehen. Und zittert so schlimm, dass er keinen Löffel, keinen Stift, nicht mal seinen eigenen verdammten Schwanz halten kann. Alles müssen die Schwestern für ihn machen.«
Bennie Deen, einer von Billys schweren Jungs, saß ihm gegenüber an einem Tisch im Bark und las Zeitung. Es war vier Uhr nachmittags. Im Pub war es ruhig. Es gab kaum andere Gäste. Bennie senkte die Zeitung und sagte: »Du hast ihm einen guten Platz besorgt, Boss. Den besten überhaupt. Da wird’s ihm bald besser gehen. Hat nicht dieser Doktor, dieser Barnes, gesagt, dass sie sogar bei den schlimmsten Fällen Fortschritte machen?«
»Besser? Was wird besser? Vielleicht kann er eines Tages wieder selber laufen. Oder selber essen. Aber er kommt nie mehr da raus. Er stirbt da drin. Er wird nie ein selbstständiges Leben führen, keine Frau, keine Kinder haben, rein gar nichts. Da könnt er doch genauso gut gleich tot sein.«
Billy goss sich erneut Whisky ein. »Am schlimmsten ist es für meine Frau. Sie tut nichts mehr. Redet nicht. Isst nicht. Hockt bloß in der Küche und starrt aus dem Fenster. Als würd sie warten, dass alle drei heimkommen.«
»Kann sie denn keine mehr kriegen?«
»Keine was mehr kriegen?«
»Kinder?«
»Nein, du Idiot, kann sie nicht. Sie ist alt. Vierzig, einundvierzig … keine Ahnung. Und selbst wenn, Kinder sind doch keine Socken. Wenn du einen verlierst, kannst du dir nicht einfach einen neuen kaufen. Mann, lies deinen Witzteil weiter, und lass mich in Frieden.«
In dem Moment ging die Tür des Barkentine auf, und eine junge, gut gekleidete Frau trat ein. Sie hatte einen Stapel Zeitungen bei sich.
»Ist Mr Madden hier?«, fragte sie den Barkeeper. Der Mann wollte gerade verneinen, als sie Billy an seinem üblichen Platz am Fenster entdeckte. »Ah! Da ist er ja!«
»Mr Madden, darf ich mich einen Moment zu Ihnen setzen?«, fragte sie und ging auf seinen Tisch zu. »Mein Name ist Katie Bristow. Ich bin Redakteurin und Herausgeberin des Schlachtrufs, und ich arbeite für Sam Wilson, Ihren hiesigen
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