Die Wildrose
nicht weil sie es wünschten.
Joe sprach mit einem Kohlebaron aus dem Ruhrgebiet, einem Ökonomen aus Berlin und einem Fabrikanten für Landwirtschaftsgeräte. Die Atmosphäre blieb angespannt, und Joe wünschte sich, er wäre draußen bei der Meute der wartenden Journalisten und Fotografen.
»Glückwunsch zu Ihrer Wiederwahl, Mr Bristow«, sagte eine Stimme hinter ihm in makellosem Englisch. Joe drehte sich um. Ein großer, blonder Mann stand in seiner Nähe, und Joe erkannte ihn auf Anhieb. Sein Haar war kürzer als bei ihrer letzten Begegnung, und über seine linke Gesichtshälfte verlief eine hässliche Narbe, trotzdem hatte er sich während der vergangenen vier Jahre kaum verändert.
»Max von Brandt«, stellte sich der Mann vor. »Vielleicht erinnern Sie sich. Wir haben uns vor dem Krieg kennengelernt. Im Holloway-Gefängnis. Sie hatten mich in Ihr Haus eingeladen. Zur Hochzeit Ihres Schwagers.«
»Ja«, erwiderte Joe eisig. »Das habe ich.«
»Ich freue mich, Sie wiederzusehen«, fuhr Max fort, »diesmal in meiner Rolle als Delegierter der Handelskommission.«
Joe packte eine unglaubliche Wut beim Anblick des Mannes, die er nur mit größter Mühe beherrschen konnte. Aber er vertrat hier die Angelegenheiten des britischen Volkes, nicht seine eigenen. Was er dem Kerl eigentlich an den Kopf werfen wollte, musste warten. Er zwang sich, höflich und aufmerksam zuzuhören, während Max und zwei andere Herren zu ihm traten und ihm gratulierten.
»Gentlemen, hier entlang, wenn ich bitten darf …«, hörte Joe Archie Graham sagen.
Sie wurden nach draußen vor den Sitz des Premierministers geführt. Horden von Journalisten, die sich hinter der Absperrung drängten, bombardierten sie mit Fragen.
»Kommt einem eher vor, als stünde man vor einem Erschießungskommando«, bemerkte Graham, der neben Joe stand.
»Ich schätze, das Erschießungskommando würde uns nicht so hart rannehmen wie diese Meute hier«, antwortete Joe.
Es wurde verkündet, dass der Premier, das Kabinett und die deutschen Gäste zuerst für Fotos und dann für Fragen zur Verfügung stünden. Joe blickte auf das Heer von Presseleuten und entdeckte seine Tochter in der Menge. Sie hatte ihren Notizblock gezückt und schrieb wie wild. In ihrer Begleitung befand sich ein Fotograf. Joe sah stirnrunzelnd zu ihr hinüber. Es waren keine Semesterferien mehr, und sie sollte eigentlich in der Universität statt hier sein. Fiona wäre sicher verärgert, wenn sie davon erfuhr, und es gäbe Streit. Joe war stolz auf Katies journalistische Interessen, aber ihr Blatt sorgte zuweilen auch für eine Menge Schwierigkeiten.
Nachdem die Fotografen ihre Bilder im Kasten hatten, begannen die Fragen. Reporter schrien durcheinander, unterbrachen sich gegenseitig und verlangten Antworten. Vor allem wollte man wissen, warum die Regierung mit Großbritanniens ehemaligem Feind Handelsgespräche führe.
Graham ergriff als Erster das Wort und erklärte, dass erneuerte Handelsverbindungen dazu beitragen würden, die britische Wirtschaft zu stärken. Dann folgte der Premierminister, der den Edelmut des Siegers einforderte, und danach waren die Deutschen an der Reihe. Max von Brandt, ihr Sprecher, trat vor. Behutsam und überzeugend trug er die Absichten seiner Delegation vor und unterstrich die Vorteile, die sich daraus für Großbritannien und Deutschland gleichermaßen ergäben. Er sprach ungefähr zehn Minuten und beendete seine Rede mit den Worten: »Natürlich werden wir unsere Pläne bei den Treffen mit unseren britischen Amtskollegen im Lauf der nächsten Wochen noch genauer erläutern, aber wir wissen es zu schätzen, dass wir unsere Vorstellungen hier vor Ihnen darlegen durften. Die Fleet Street war uns bislang nicht gewogen, was nicht verwunderlich ist, aber ich möchte Ihnen versichern, dass es meine und die aufrichtige Hoffnung des deutschen Volkes ist – nach Beendigung der Feindseligkeiten zwischen uns –, gemeinsam für Frieden und Wohlstand und zum Wohl unserer beiden Nationen zusammenzuarbeiten. Ich danke Ihnen, Gentlemen.«
Währenddessen saß Joe starr lächelnd in seinem Rollstuhl und kochte innerlich vor Zorn. Die Gegenwart dieses Menschen war ein grausamer Hohn für ihn. Es war einfach unglaublich, dass dieser Mann, der seiner Familie und zahllosen anderen so viel Schaden zugefügt hatte, lächelnd hier stehen und von besseren Tagen reden konnte, als wäre nichts geschehen.
Nach ein paar weiteren Fragen verabschiedete sich der Premier mit
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