Die Wildrose
schob es sich aus dem Eis, wenn die Wasserdecke zufror, und schwebte fast darauf, statt zerquetscht zu werden. Es war eine geniale und sehr zweckmäßige Konstruktion, aber keine schöne. Verglichen mit dem Schiff vor ihm, sah die Fram wie ein Waschzuber aus.
»Sie wird sich im Eis nicht so gut verhalten«, sagte Seamie.
»Das braucht sie auch nicht. Sie wird nur im losen Packeis eingesetzt.«
»Ach ja? Wie heißt sie denn?«
»Sie heißt Polaris, aber ich werde sie vermutlich in Endurance umtaufen. Gemäß dem Motto meiner Familie: Fortitudine vincimus – durch Ausdauer siegen wir.«
» Endurance«, wiederholte Seamie. »Das ist ein perfekter Name. Perfekt für alle und alles, was mit Ihnen in Verbindung steht, Sir.«
Ernest Shackleton brach in lautes Gelächter aus, und seine klugen Augen blitzten. »Kommen Sie an Bord, mein Junge. Wollen mal hören, was Sie denken. Haben Sie noch Ihre standfesten Seemannsbeine?« Noch bevor er seinen Satz beendet hatte, war Shackleton schon halb die Strickleiter an der Schiffswand hinaufgeklettert.
Seamie schüttelte lächelnd den Kopf. Er wusste bereits, worauf es hinauslaufen würde. Shackleton hatte am Telefon nicht viel gesagt. Aber das war auch nicht nötig.
»Wie geht’s Ihnen, Seamus, mein Junge?«, hatte er gebellt. Seamie hatte die Stimme sofort erkannt. Mehr als zwei Jahre lang hatte er sie täglich in der Antarktis gehört, wo er an Bord eines anderen Schiffes von Shackleton, der Discovery, seine erste Polarexpedition mitgemacht hatte.
Noch bevor Seamie antworten konnte, war Shackleton gleich zum Grund seines Anrufs gekommen. »Ich brauche Ihre Hilfe«, sagte er. »Da gibt’s ein Schiff, das mich interessiert. In Norwegen gebaut, aber im Moment im Hafen von Portsmouth. Könnten Sie herkommen und einen Blick darauf werfen? Ich möchte gern wissen, was Sie davon halten.« Er hielt einen Moment inne und fügte dann mit spöttischem Unterton hinzu: »Wenn Sie nicht gerade zu beschäftigt sind, mit Clements Markham Tee zu trinken und Plätzchen zu knabbern.«
»Sie haben von dem Stellenangebot gehört?«, fragte Seamie.
»Ja. Und ich schätze, Sie haben abgelehnt.«
»Noch nicht.«
»Warum nicht?«
»Es ist doch nicht schlecht, für die Royal Geographical Society gute Arbeit zu leisten. Schließlich ist es eine Organisation, die mir und uns allen viel bedeutet«, antwortete Seamie. »Ich nehme die Stelle vielleicht an. Warum auch nicht? Ich habe keine besseren Angebote«, fügte er etwas spitz hinzu.
Schließlich willigte Seamie ein, seinen alten Kapitän in Portsmouth zu treffen und ihm offen seine Meinung über das Schiff zu sagen, da er ziemlich sicher war, dass Shackleton ihn bitten würde, bei ihm anzuheuern.
Aber würde er zusagen? Noch vor ein paar Wochen hätte er nicht gezögert, aber das war, bevor er Jennie kennengelernt hatte. Bevor er beim Spazierengehen ihre Hand genommen und über ihr und sein Leben gesprochen hatte. Bevor er sie an sich gezogen, ihre Lippen geküsst und ihr Herz an seinem pochen gehört hatte. Bevor ihm – zum ersten Mal in seinem Leben – der Gedanke gekommen war, es könnte eine andere Frau für ihn geben als Willa Alden.
Seamie blickte jetzt wieder auf das Schiff und kletterte ebenfalls die Strickleiter hinauf.
»Der Kiel ist über zwei Meter dick. Die Seitenwände zwischen fünfzig und achtzig Zentimeter. Das Schiff hat doppelt so viele Spanten wie ein vergleichbares seiner Größe. Wo der Bug aufs Eis trifft, ist er fast eineinhalb Meter dick«, beantwortete Shackleton Seamies Fragen, bevor er sie überhaupt stellen konnte.
Seamie nickte beeindruckt – obwohl er das eigentlich gar nicht wollte. Er wünschte sich fast, es wäre irgendetwas nicht in Ordnung mit dem Schiff, es hätte irgendeinen gravierenden Konstruktionsfehler – irgendetwas, das ihm einen Grund lieferte, nicht mitzufahren. In London zu bleiben und die Stelle anzunehmen. Bei Jennie zu bleiben.
»Und die Maschine?«, fragte er.
»Eine mit Kohle befeuerte Dampfmaschine. Sie macht etwas über zehn Knoten«, erläuterte Shackleton.
Er redete weiter, erzählte von den vielfältigen Qualitäten des Schiffs und dass es eigens für polare Erfordernisse gebaut worden sei. Er ereiferte sich über die Eiche, die norwegische Tanne und das Grünherzholz, das zu seinem Bau verwendet worden war. Er redete über eine Stunde und führte Seamie auf dem Deck herum, dann hinunter in die Mannschaftskojen und die Kapitänskabine, in den Maschinenraum, die Kombüse
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