Die Wildrose
»Ich will Kopien von allen Briefen, die das Büro von Burgess verschickt.«
»Was? Wie soll ich das machen? Er ist doch ständig in meiner Nähe. Und andere Leute auch.«
»Durchschläge. Du machst doch von jedem Brief einen Durchschlag für seine Akten?«
Gladys nickte.
»Benutz einen zweiten Durchschlag. Für jeden Brief einen. Alle Durchschläge kommen in einen speziellen Korb und werden am Ende des Tages verbrannt, stimmt’s? Das sei eine große Verschwendung und verursache immense Kosten, aber aus Sicherheitsgründen notwendig, hast du zumindest gesagt.«
»Ja.«
»Sorg dafür, dass der zweite Umschlag nicht in den Korb gelangt.«
»Wie denn? Ich hab dir doch gesagt, dass Leute …«
»Ich schlage vor, dass du ihn zweimal faltest und in deine Strümpfe steckst. Warte, bis du allein bist. Oder tu so, als würdest du einen Stift unterm Schreibtisch aufheben. Benutz deinen Verstand, Gladys. Jeden Abend wird deine Tasche durchsucht, du selbst aber nicht, weil Burgess dir absolut vertraut. Das hast du mir ebenfalls gesagt. Ich will auch Notizen über alle sonstigen Dokumente. Einlaufende Korrespondenz zum Beispiel. Blaupausen. Karten. Du sagst mir, worum es sich handelt und was sie enthalten. Lass nichts aus, ich warne dich. Wenn ich aus anderen Quellen über Flottenpläne oder Neuerwerbungen erfahre, gehen die Fotos in die Post. Hast du mich verstanden?«
»Ja.«
»Jeden Mittwoch trifft dich mein Mittelsmann in dem Bus, den du nach Hause nimmst. Er steigt am Tower Hill ein und setzt sich neben dich. Du sitzt auf dem Oberdeck. Er wird einen Anzug tragen und eine Arzttasche bei sich haben. Und eine Ausgabe der Times des jeweiligen Tages. Du ebenfalls. Im Innern der Zeitung werden die Durchschläge für mich sein. Du legst die Zeitung auf den Sitz zwischen euch. Der Mann wird deine gegen seine austauschen. Danach steigst du bei deiner üblichen Haltestelle aus. Das ist alles. Falls du dich nicht daran hältst, falls du irgendetwas nicht Vereinbartes tust, weißt du, was passiert.«
Gladys nickte. Ihr Gesicht war grau, ihre Augen waren trüb und ausdruckslos. Sie wirkte innerlich zerbrochen.
»Kann ich jetzt gehen?«, fragte sie.
»Ja«, sagte Max. »Du siehst mich heute zum letzten Mal, vorausgesetzt, du lieferst mir keinen Grund, an dir zu zweifeln.«
Er stand auf und zog einen Umschlag aus der Tasche.
»Der ist vom Kaiser. Als Anerkennung für deine Bemühungen. Er enthält hundert Pfund. Damit du die Arztrechnungen für deine Mutter bezahlen kannst.«
Gladys nahm den Umschlag, zerriss ihn in Stücke und ließ die Fetzen zu Boden fallen. Danach ging sie schwankend aus dem Zimmer hinaus und knallte die Tür hinter sich zu. Max lauschte, wie das Geräusch ihrer Schritte auf der Treppe verklang, und ein Ausdruck fast unerträglichen Schmerzes strich über sein Gesicht. Er kniete sich nieder, sammelte die Papierfetzen vom Boden auf und warf sie ins Feuer.
16
I st dir kalt?«, fragte Seamie, während er den Kahn vorwärtsstakte.
»Überhaupt nicht. Es ist so warm heute, dass man meinen könnte, es sei Juni statt April. Herrlich, nicht? Nach dem trübseligen, endlosen Winter«, antwortete Jennie und lächelte ihn an.
Sie trug einen Strohhut sowie ein Kleid aus taubenblauem Rips, und eine Schärpe aus elfenbeinfarbener Seide betonte ihre schmale Taille. Ihre Wangen waren gerötet, und ihre Augen strahlten. Bezaubernd, dachte Seamie, als er sie ansah. Das ist genau das richtige Wort. Genau das ist sie.
Am Abend zuvor waren sie im Zug gemeinsam mit Albie und Tante Eddie nach Cambridge gekommen und verbrachten nun ein langes Wochenende in Eddies Haus. Eddie hatte Jennie sofort ins Herz geschlossen und während der Zugfahrt auf ihre typische Art eine Menge peinlicher Bemerkungen gemacht. »Du wärst ja wohl total verrückt, wenn du sie ziehen lassen würdest, mein Junge. Am besten, du steckst ihr einen Ring an den Finger, bevor sie herausfindet, wie du wirklich bist.« Und am peinlichsten war eine Bemerkung, die Eddie mit gedämpfter Stimme vorbrachte – was hieß, dass nur etwa die Hälfte der Mitreisenden sie mitbekam: »Wenn du meinen Ratschlag hören willst, dann machst du mit diesem Mädchen nicht leichtfertig rum. Sie ist nämlich keine, die nur aufs Geld aus ist wie all die anderen.«
Als der Zug schließlich in den Bahnhof von Cambridge einfuhr, war Seamie zutiefst beschämt, aber er wusste auch, dass Eddie recht hatte. Er traf sich jetzt seit fast zwei Monaten mit Jennie. Jedes
Weitere Kostenlose Bücher