Die Wildrose
und den Laderaum.
Als sie wieder an Deck standen, zündete er eine Zigarette an, gab sie Seamie und zündete sich dann selbst eine an. Er nahm einen tiefen Zug und stieß den Rauch aus. »Nun, mein Junge«, sagte er schließlich, »ich habe Sie nicht wegen einer Schachtel Karamellbonbons hierherkommen lassen.«
»Das habe ich auch nicht erwartet, Sir.«
»Ich stelle eine neue Expedition zusammen.«
»Das habe ich gehört.«
»Ihr habt damals den Südpol gefunden, aber damit ist die Erforschung der Antarktis nicht abgeschlossen. Ich möchte eine weitere Reise machen – eine Durchquerung des Kontinents. Zwei Gruppen. Zwei Schiffe. Die Endurance segelt zum Weddell-Meer und setzt in der Vahsel-Bucht eine Gruppe ab, die von dort aus zum Rossmeer marschiert, über den Pol.«
»Wie steht’s mit der Versorgung?«, unterbrach ihn Seamie, der sich erinnerte, wie entscheidend die richtige Planung von Proviant, Unterkunft und Brennstoff bei Amundsens Erfolg gewesen war. »Die Weddell-Meer-Gruppe wird nicht in der Lage sein, genügend zu transportieren, um alle Teilnehmer auf dieser Reise zu verpflegen.«
Shackleton lächelte. »Hier kommt die zweite Gruppe ins Spiel. Während sich die erste Gruppe zum Weddell-Meer aufmacht, bringt ein zweites Schiff eine zweite Gruppe zum McMurdo-Sund im Rossmeer, wo sie ein Basislager errichtet. Von dort aus zieht sie in Richtung Rossmeer und schlägt entlang des Ross-Schelfeises bis zum Beardmore-Gletscher Nahrungs- und Brennstofflager auf, aus denen sich die erste Gruppe bei der abschließenden Durchquerung versorgt. Die Weddell-Meer-Gruppe trifft dann am Ende auf die Rossmeer-Gruppe, und damit wäre es geschafft – die erste Landdurchquerung der Antarktis.«
Seamie dachte über Shackletons Plan nach. »Es könnte klappen«, sagte er nach einer Weile.
» Könnte? Da gibt’s kein könnte . Es wird klappen!«, erwiderte Shackleton.
Seamie hörte die Begeisterung in der Stimme des Mannes. Die gleiche Begeisterung hatte er gehört, als er ihn das erste Mal getroffen hatte – bei dem Vortrag in der Royal Geographical Society, kurz bevor er Shackleton überredet hatte, ihn auf die Expedition mit der Discovery mitzunehmen.
Er musste lächeln. »Sie sind nie glücklicher, Sir, als wenn Sie vor einer Forschungsreise stehen.«
»Die Suche ist alles, mein Junge. Das wissen Sie genauso gut wie ich. Also, was ist? Ich hätte Sie sehr gern dabei. Sind Sie dabei? Oder lassen Sie es zu, dass Clements einen Bürokraten aus Ihnen macht?«
Seamie lachte, stellte dann aber zu seiner Verblüffung fest, dass er keine Antwort wusste.
Bin ich dabei? , fragte er sich.
Er erinnerte sich an die unglaublich betörende Schönheit der Antarktis – die stahlgraue See, die eisbedeckte Landschaft und die Weite des nächtlichen Himmels. Nicht zu vergleichen mit dem Londoner oder New Yorker Himmel, wo Licht und Smog die Sterne verdunkelte. Es war so klar dort, so unermesslich still, dass er glaubte, zum ersten Mal das Firmament zu sehen. In so vielen Nächten meinte er, zu den Sternen greifen und sie wie Diamanten einsammeln zu können.
Doch am genauesten erinnerte er sich an den lebensbedrohlichen Vorstoß zum Pol. Das erste Mal mit Shackleton hatten sie nur hundert Meilen vor dem Ziel umkehren müssen. Andernfalls wären sie gestorben. Das zweite Mal mit Amundsen hatten sie es geschafft. Er dachte daran, wie viel jede dieser Expeditionen ihm abverlangt hatte. Er erinnerte sich an den Hunger, die Kälte und die Erschöpfung. Zwei Jahre waren seit der Südpolexpedition vergangen, und erst jetzt fand er allmählich zu einem halbwegs normalen Leben zurück, aber die Expedition, die Shackleton ihm vorschlug, würde ihn zwei weitere Jahre kosten. Vielleicht sogar drei. Er wäre so viel älter bei seiner Rückkehr. Und was wäre mit Jennie? Würde sie auf ihn warten? War er sich sicher, dass er das wollte?
»Nun, mein Junge?«, drängte ihn Shackleton.
Seamie zuckte hilflos mit den Achseln. »Kann ich darüber nachdenken, Sir? Ich fürchte, ich weiß es nicht.«
»Sie wissen es nicht?«, fragte Shackleton ungläubig. »Wie können Sie das nicht wissen? Um Himmels willen, wo ist Ihr Herz, mein Junge?«
Gute Frage, dachte Seamie. Wo ist es? Hatte er es am Kilimandscharo zurückgelassen? Oder irgendwo draußen in der eisigen See der Antarktis verloren? War es in London bei Jennie?
Während er seinen Blick über die vertäuten Schiffe im Hafen schweifen ließ, wurde ihm schmerzlich klar, dass er die Antwort
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